Bayreuth: „Der verschwundene Hochzeiter“

Klaus Lang

DER VERSCHWUNDENE HOCHZEITER

Uraufführung: 24.7.2018

Eine Oper als Uraufführung der Bayreuther Festspiele? Doch, das gibt es – zu erleben war sie, freilich an einem exterritorialen Ort, dem vor einiger Zeit reanimierten „Reichshof“-Kino in der Bayreuther Maxstrasse: bei gefühlten 30 Grad im Schatten. Mag sein, dass deshalb das Ereignis auf viele Zuschauer und -hörer insgesamt weniger animierend wirkte als geplant; letzten Endes dürfte man froh gewesen sein, nach 5373 Sekunden reiner und sehr genau definierter Spielzeit, also gegen 22 Uhr 40, den warmen Saal verlassen zu haben. Bayreuther Opernnächte eben. Doch konnte der Freund der Neuen Musik die erste Hälfte des Werks und viele Details des zweiten Teils goutieren – denn Klaus Langs Komposition hat ihre Meriten.

Wer ist Klaus Lang? 1971 in Graz geboren, lebt er heute als Komponist und Konzertorganist in Steirisch Laßnitz. Er studierte u.a. bei Beat Furrer und hat seit 2006 eine Professur an der Musikuniversität Graz inne; auch lehrt er seit 2008 Komposition bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik. Seine Opern und seine Werke für das Musiktheater – es sind insgesamt 15 – tragen so schräge Titel wie „stimme allein“, „königin ök“, „kirschblüten. Ohr.“, „architektur des regens“ und „kommander kobayashi am ende“. „der verschwundene hochzeiter“ ist im Vergleich zu den relativ kurzen Bühnenwerken, deren längstes „BUCH ASCHE“ wie der „Hochzeiter“ 90 Minuten dauert, von geradezu wagnerscher Länge.

Worum geht’s? Um eine alte Sage, die das Bedürfnis des Österreichers nach den holden Schauern des mystischen Entsetzens vollauf erfüllt. In Kurzfassung, wie sie die Dramaturgie mitteilte: Ein Bräutigam wird von einem Fremden zu einer Hochzeit eingeladen. Er soll sich vergnügen und feiern, aber nur so lange die Musik spielt. Der Bräutigam hält sich nicht daran. Als er heimkehrt, merkt er, dass seit seinem Weggang drei Jahrhunderte vergangen sind. Er zerfällt zu Staub. Anders gesagt: Er erliegt dem Phänomen der verstreichenden Zeit, indem er über die musikalische Zeit hinaustanzt, auf radikale Weise. Eben dies – die Zeit als Kategorie auch des Komponierens – scheint im Mittelpunkt der Langschen Ästhetik zu stehen. Wer einiges von ihm und nun den „Hochzeiter“ gehört hat, hört Klangströme, die sich, bisweilen fast unmerklich, in der Zeit bewegen und verändern.

Insofern sind in diesem Stück Inhalt und Form, nun ja: nicht deckungsgleich, aber angenähert worden. Im Hörer entsteht tatsächlich sehr schnell schon ein meditativer Sog, der, das ist präzisest austariert, in der absoluten zeitlichen Mitte des Werks zu einem kurzen und überraschenden Crescendo anwächst: in jenem Moment, in dem der Fremde den Hochzeiter in seinem (seltsamen) Haus begrüßt. Minimal Music? Wohl kaum. Eher eine Musik, deren Rhythmen und Tempi bisweilen ins Sedierende gleiten.

Analytiker würden nun von der „Organisation des Materials“ reden – ganz abgesehen davon, dass Musik nichts weiter ist als die Organisation von Klang. Der Komponist hat darauf hingewiesen, dass „alle Zahlenproportionen, die sich auf Tempi oder Rhythmen beziehen, im Raum des Fremden die einfachen Teilungsverhältnisse 1:2:3:4, deren Summe die Zahl zehn ergeben, das Dorf die Zahlen 4 und 3, in Summe sieben“ haben. Man mag das hören oder nicht; in Summa ergibt sich ein aleatorisch scheinendes Klangband mit relativ wenigen gravierenden, aber dramaturgisch stimmigen Akzenten, die die Figurenzeichnungen dem Laienhörer weniger deutlich sind als dem Komponisten. Die Hauptsache der Klangsphäre aber bleibt der Umstand, dass sie mit 20 Musikern und einem kleinen Chor für sensitive Sensationen sorgt. Tatsächlich klingt das alles magisch. Damit aber passt es auf intrikate Weise zur strengen optischen Form. Lang, er selbst als sein eigener Librettist und Paul Esterhazy, der das Konzept, die Regie und den kleinen Kastenraum zusammen mit dem Videographen Friedrich Zorn und der Kostümgestalterin Pia Janssen erarbeitete, haben vom Nullpunkt an ein Gemeinschaftswerk geschaffen. Die Videographie ist hier keine verzichtbare Dekoration, sondern integraler Bestandteil der Geschichte: egal, ob es ins Schwarze schneit (und sich die Figur des Hochzeiters im schönsten dunklen Licht darin abzeichnet) oder ob die beiden Figuren mit ihren reproduzierten Doubles in Kontakt kommen. Die Brüder Jiří und Otto Bubeníček laufen und tanzen – sehr langsam und sehr formell – den Hochzeiter und den Fremden (der, aber in totem Grau, wie der gespenstische Doppelgänger des Hochzeiters aussieht), während die Stimmen aus dem Off tönen. Das Publikum wird umringt von den Musikern und den Chorsängern; hinter ihm stehen der gute Bass Alexander Kiechle (einst Stipendiat des Ulmer Wagnerverbandes) und der Countertenor Terry Wey, die ihre aus einsilbigen Worten bestehenden Kurzsätze zu singen haben. Wir sehen links auf eine beeindruckende Reihe von Kuhglocken, denen der Schlagzeuger diffizilste Töne entlockt, während die Geschichte des jungen Mannes erzählt wird, der an fetten und mageren Kühen, auch an einem Häuschen mit summenden Bienen vorbeikommt. Alles Seelen, erfahren wir – und der Sound entlädt sich in zauberhaftem Brummen und Summen. Das Grauen, das durch diese Oper schleicht, ist mehr als subkutan. Die Tänzer agieren oft im Schatten, während ihr Double aus ihnen herauswächst und sich mit ihnen schlafen legt, wenn die anderen Doubles durch die Fenster in das Haus hineinschauen. Schon rein technisch betrachtet, ist diese Uraufführung hervorragend gewesen: mit einem quasi folkloristischen „Helden“ und seinen Doubles, der sich in die Anderswelt hineinbegibt und in rasender (Kamera)-Fahrt wieder in seine Welt zurückkehren will, die seit 300 Jahren Vergangenheit ist. „Ein minutiös abgeleiteter Algorithmus vom Standbild bis zur extremen fast-forward-Bewegung (in Szene und Video) entspricht den in der Partitur präsenten Zuständen von Beschleunigung, Entschleunigung und Sprüngen der Zeit“, sagt Friedrich Zorn. Das Ganze ist nichts weniger als surreal. So wie die Oper an sich, die nie real sein kann. Hier wird erst gar nicht behauptet, dass ein Musiktheaterstück irgendeine Realität realistisch abzeichnen könne – gerade deshalb eignet sich die symbolistische und mystische wie latent grauenvolle Geschichte sehr gut für die Bühne. Fragt sich nur, ob diese Avantgarde so avantgardistisch ist, wie sie zu sein vorgibt, auch wenn der Komponist vermutlich nicht die Absicht hat, ein modernes Stück um der Moderne willen zu schreiben. Im Grunde aber ist die Frage nach der „Aktualität“ einer modernen Opernpartitur dort überflüssig, wo sie durch handwerkliche Gediegenheit und souveräne Orchesterbehandlung besticht – was freilich nicht heisst, dass das Werk mehr als in einer Serie über die Bühne geht. Es liegt nicht immer an mangelnder Spannung.

Realisiert also wurde der gediegene Orchesterpart vom farbenreich spielenden Ictus Ensemble, das von Georges-Elie Octors einstudiert wurde. Einen Dirigenten gibt es nicht, dafür eine Partitur, deren Tempo sich automatisch aus der präzis eingeteilten Takteinteilung ergibt. Der Chor Catando Admont besteht beim „Hochzeiter“ aus sechs Sopranen und ebenso vielen Alt-Sängerinnen, die ihre Einwürfe sinnlich-schön singen: „das leid ist noch lang und schwer“, so lassen sie die Kühe sprechen, bevor sie zur Quintessenz des Werkes kommen: „was sind wir als staub im wind.“

Zum Raum wird hier die Zeit? Vergisst man einmal das Theoriegebäude, mit dem der Komponist seine Partitur legitimieren möchte, bleibt ein spannender Opernabend, der nicht durch „action“, sondern durch die fast metaphysische Erfahrung eines nicht durchwegs kontemplativ durchschrittenen Klang-Raums wirkt. Dass die erste Bayreuther Festspiel-Uraufführung ausgerechnet in einem Raum stattfand, der seit 20 Jahren kaum noch als Spielort genutzt wurde – nostalgische Gefühle der älteren Bayreuther waren da vorprogrammiert -, ist ein produktionsbedingter Zufall. Aber er passte – so wie Klaus Langs Komposition, von der man sehr gern wissen würde, ob sie auch unter weniger anstrengenden Zuschau-Bedingungen und einer weniger strengen Choreographen-Regie 90 Minuten lang tragen würde. Die Musik hätte es, wie die vielleicht allzu geduldig ausgezirkelte Geschichte, auf jeden Fall verdient.

Frank Piontek, 25.7.2018

Fotos: © Diskurs Bayreuth – Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath