Bayreuth: „Götterdämmerung“

Besuchte Aufführung: 28.8.2017 (Premiere: 3.8.2017)

Voodoo-Zauber und die New Yorker Börse

Mit einer in jeder Beziehung fulminanten „Götterdämmerung“ ging Frank Castorf s Interpretation von Wagners „Ring“ in die letzte Runde. Man bedauert, dass dieser „Ring“ nun abgesetzt wird, denn er gehört zum Besten, was die Rezeptionsgeschichte des Werkes zu bieten hat. In dieser Aufführung wurden Castorfs Vorzüge wieder sehr deutlich. Ihm ist eine äußerst kurzweilige, gut durchdachte, stringent auf den Punkt gebrachte und von der Personenregie her spannende Regiearbeit zu bescheinigen, bei der auch Video-Projektionen wieder eine erhebliche Rolle spielten. Die Aufnahme durch das Publikum beim Schlussapplaus erfolgte gänzlich widerspruchslos. Aber dass sich eine zuerst heftig abgelehnte Produktion in ihrem letzten Jahr in einen Kult verwandelt, hat man in Bayreuth, und nicht nur dort, ja schon oft erlebt.

Stefan Vinke (Siegfried), Stephen Milling (Hagen)

Wie schon im „Siegfried“ setzt Castorf auch hier erneut auf die Aufbereitung der DDR-Geschichte. Zusammen mit Aleksandar Denic (Bühnenbild) und Adriana Braga Peretzki (Kostüme) hat er das dramatische Geschehen im geteilten Berlin der 1980er Jahre vor der Wiedervereinigung angesiedelt. Der Alexanderplatz spielt in der „Götterdämmerung“ indes keine Rolle mehr. Das Ganze findet in einem Hinterhof in Kreuzberg statt, in dem man noch einen Teil der Berliner Mauer erblicken kann. Des Weiteren erschließt sich dem Blick die von S. Berthmann stammende Leuchtreklame des Kombinats VEB Chemische Werke „Plaste und Elaste aus Schkopau“. Hierbei handelt es sich um einen Slogan der ehemaligen DDR, der inzwischen Kultstatus genießt. Außerdem ist eine offenbar Sergej Eisensteins berühmtem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ entsprungene riesige Freitreppe zu sehen. Diese Annahme findet ihre Bestätigung, wenn der bereits aus den vorangegangenen drei Inszenierungen bekannte, von Dramaturg und Regieassistent Patric Seibert dargestellte Allround-Statist einen mit Kartoffeln gefüllten Kinderwagen die Treppe hinabfährt. Später täuscht er böse die Rheintöchter. Blutüberschmiert stellt er sich tot und wird von ihnen kurzerhand in den Kofferraum ihres eleganten Mercedes-Cabriolets verfrachtet.

Catherine Foster (Brünnhilde)

Die Gibichungen sind Inhaber einer Döner-Box, die neben einem einfachen Obst- und Gemüsestand errichtet ist. Diese nicht gerade königlich anmutende Sippe wird vom Regisseur mit westlichen Geschäftemachern identifiziert. Castorf stellt sie als Verbrecherbande dar, die problemlos zwischen Ost- und West-Berlin hin und her pendeln kann. Das gilt insbesondere für Hagen. Obwohl Gunther und Gutrune in dieser Inszenierung eine Aufwertung erfahren, wird offenkundig, dass sie keine Zukunft haben. Gunther ist alles andere als der konventionelle feige Schwächling und Gutrune eine selbstbewusste, starke und viele Facetten aufweisende junge Frau. Sie kann es kaum erwarten, ihr Geschenk auspacken zu dürfen, das sie von Hagen als Belohnung für ihre Bereitschaft erhält, an der gegen Siegfried geschmiedeten Intrige zu partizipieren. Als die Verpackung endlich fällt, sieht man eine schnuggelige Isetta, in die Gutrune auch sogleich einsteigt. Da hat ihr Hagen, der dem Hells Angel Frank Hanebuth nachempfunden ist, wahrlich eine große Freude bereitet.

Stephen Milling, Chor

Hagen steht auch im Zentrum des Interesses des Regisseurs. Castorf stellt ihn nur äußerlich als harten, unsympathischen Rocker dar. Die psychologische Seite des Nibelungensohnes interessiert ihn viel mehr. Hagen kommt mit der Fremdbestimmtheit durch seinen Vater Alberich – dieser macht sich am Ende ihrer Aussprache zu Beginn des zweiten Aufzuges mit der Gibichungen-Mutter Griemhild auf und davon – nicht zurecht und leidet stark darunter. Er erträumt sich ein Leben, in dem er selbst bestimmen kann, was er tut. Siegfried und Gunther ermordet er mit einem Baseball-Schläger. Den Trauermarsch bezieht Castorf überraschenderweise nicht auf Siegfried, sondern vielmehr auf Hagen. Ein Schwarz-Weiß-Film zeigt ihn einsam und verlassen durch den Wald streifen. Sein Begehren nach Selbstbestimmung bleibt ein Wunschtraum, der hier zwar visualisiert wird, der aber nicht in Erfüllung geht. Von dem allbestimmenden Einfluss seines kapitalistischen Vaters vermag sich Hagen bis zum Schluss nicht zu lösen. Darüber ist er sich durchaus bewusst. Am Ende sieht man ihn in einem Boot tot auf einen See hinaustreiben. Der Tod bedeutet für ihn Erlösung.

Stephanie Houtzeel (Zweite Norn), Christiane Kohl (Dritte Norn), Wiebke Lehmkuhl (Erste Norn)

Zentrale Relevanz kommt dem Voodoo-Zauber zu, dem Castorf wohl die westlichen Werte zuordnet. Gepflegt wird der Voodoo-Kult von den zunächst mit Müllsäcken bekleideten Nornen. Später treten sie in schwarz-rot-goldenen Gewändern auf und outen sich auf diese Weise deutlich als dem deutschen Volk zugehörend. Sie sammeln Müll und horten ihn in einem kleinen Voodoo-Tempel, der durch ein Scherengitter von der Außenwelt abgeschirmt wird. Anschließend beschmieren sie sich mit Blut. Dem Element des Wassers kommt in diesem Kontext ebenfalls große Bedeutung zu. Denkt man an Hagens Ende auf dem See, erweist sich, dass er von Voodoo-Zauber auch nicht frei ist. Seinen Wachtgesang im ersten Aufzug singt er im besagten Voodoo-Tempel. Die Magie des synkretischen Kultes, den Castorf als Äquivalent für den Tarnhelm ins Feld führt, stellt er Siegfried für die Überwältigung Brünnhildes zur Verfügung. Während der Wälsung die ehemalige Walküre besiegt, sieht man auf einer Leinwand, wie Gunther mit der Hand einer Voodoo-Puppe die Augen bedeckt. Sogleich überträgt sich der Zauber auf Brünnhilde. Entsprechend denen der Puppe sind nun auch ihre Sehorgane lädiert und sie selbst nicht mehr in der Lage, in ihrem brutalen Überwältiger Siegfried zu erkennen. Nur die Würde kann ihr nicht genommen werden. Im zweiten Aufzug trägt sie ein elegantes Leoparden-Kleid und im dritten ein königlich anmutendes goldenes Gewand. Am Ende kommt auch wieder das Erdöl mit ins Spiel. Brünnhilde gießt aus einem Kanister das veredelte Erdöl, Benzin, auf die Erde, bereit es in Brand zu setzen.

Stefan Vinke (Siegfried), Alexandra Steiner (Woglinde), Stephanie Houtzeel (Wellgunde), Wiebke Lehmkuhl (Floßhilde)

Der Schluss zeigt eine kritische finanzpolitische Aussage auf. Wenn man während der gesamten Aufführung davon ausgegangen war, das im Hintergrund aufragende, augenscheinlich von Christo verhüllte Gebäude würde den Berliner Reichstag darstellen, sah man sich getäuscht. Im dritten Aufzug fällt die Verhüllung schließlich und der gedachte deutsche Parlamentsitz entpuppt sich als die New Yorker Börse. Der Sinn dieses Regieeinfalles ist klar: New Yorker Wirtschaftsmagnate bestimmen die deutsche Finanzpolitik und nicht die Regierung der BRD. Castorf spricht dem deutschen Bundestag jegliche Relevanz ab und schiebt den amerikanischen Bankiers die Verantwortung für die herrschende Finanzkrise zu. Klug, aber auch ironisch spinnt er Wieland Wagners berühmtes Postulat „Walhall ist Wallstreet“ weiter. Die Teilung Berlins nach dem Krieg in vier Besatzungszonen wird dadurch versinnbildlicht, dass die Mannen im zweiten Aufzug kleine Fähnchen der vier Siegermächte schwingen. Hier wird im großen Rahmen Weltpolitik betrieben, die auch das Ende prägt. Die Utopie eines Weltuntergangs mit oder ohne Erlösung wird dem Zuschauer von Castorf verweigert. Viele zuvor aufgeworfene Fragen bleiben ungelöst im Raum stehen. Der von ihm angestimmte Schwanengesang auf Theorie und Praxis eines ursprünglich auf Identitätsfindung ausgerichteten, im Jahre 1989 indes auf halber Strecke zum Erliegen gekommenen DDR-Sozialismus lässt hier keine Quintessenz erkennen. Sich diese zurechtzulegen, bleibt dem Auditorium überlassen. Das war alles sehr ansprechend und von Castorf stringent umgesetzt.

Leider ist an diesem Abend ein Malheur passiert. Catherine Foster, die Sängerin der Brünnhilde, verletzte sich in der ersten Pause derart, dass sie zwar noch weitersingen, aber nicht mehr spielen konnte. Die Lösung sah folgendermaßen aus: Während der Regieassistent in Kostüm und Maske auf der Bühne agierte, sang Frau Foster ihren Part mit warmer, bestens gestützter und beseelter Stimme vom rechten Bühnenrand aus. Im zweiten Aufzug saß sie in einem Rollstuhl, im dritten konnte sie schon wieder aufstehen. Stefan Vinke war ein kraftvoll singender und insbesondere in der Höhe beeindruckender Siegfried. Allerdings hätte man sich etwas mehr vokale Differenzierungen von ihm gewünscht. Stephen Milling entsprach dem Idealbild eines bösen Hagen, dem er mit robustem, gut verankertem Bass und eindringlichem Spiel ein treffliches Profil verlieh. Markus Eiche wertete die Rolle des Gunther erheblich auf. Gesungen hat er mit hellem, bestens fokussiertem und klangschönem Bariton hervorragend. Auch schauspielerisch erfüllte er die Erwartungen voll und ganz. In nichts nach stand im Allison Oakes, die einen starken, dunkel timbrierten und in jeder Lage voll und rund ansprechenden Sopran für die Gutrune mitbrachte. Albert Dohmen gab einen tadellosen, autoritären und markant deklamierenden Alberich. Mit edler Mezzo-Kultur und sehr gefühlvoller Tongebung trug Marina Prudenskaya die lange Erzählung der Waltraute vor. Wiebke Lehmkuhl überzeugte mit imposanter Altstimme als Erste Norn und Floßhilde. In der Doppelrolle von Zweiter Norn und Wellgunde gefiel Stephanie Houtzeel. Christiane Kohl war eine solide Dritte Norn. Nichts auszusetzen gab es an der Woglinde von Alexandra Steiner. Stimmstark und beim Mannenchor recht aggressiv legte sich der von Eberhard Friedrich hervorragend einstudierte Bayreuther Festspielchor ins Zeug.

Catherine Foster (Brünnhilde), Allison Oakes (Gutrune), Stefan Vinke (Siegfried)

Zusammen mit dem bestens disponierten Bayreuther Festspielorchester zauberte Marek Janowski einen vielschichtigen, nuancenreichen Klangteppich, der zwar manchmal etwas zu laut war, aber viele Farben aufwies und zudem mit einer guten Diktion der Orchesterstimmen punkten konnte.

Fazit: Eine hervorragende Aufführung! Dieser nun leider zu Ende gegangene „Ring“ wäre eine DVD wert. Vielleicht lässt die Festspielleitung sich das mal durch den Kopf gehen.

Ludwig Steinbach, 30.8.2017

Die Bilder stammen von Enrico Nawrath