Premiere: 02.10.2021
Auch ernste Themen finden Platz in einem Musical
Ein Vorurteil, welches dem Musical immer wieder angelastet wird, ist oftmals, dass es vor allem um seichte Unterhaltung, Tanz und einer Menge guter Laune geht. In vielen Stücken ist dies sicher auch richtig und im Übrigen gar nicht verwerflich. Doch das Genre bietet so viel mehr. Dies bewiesen u. a. auch Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) und Tom Kitt (Musik) mit der Broadway-Premiere von „next to normal“ im April 2009. Das Stück handelt von Diana Goodman, die an einer bipolaren Störung leidet und den vielfältigen Auswirkungen, die dies auf das alltägliche Familienleben hat. Zudem wird die Frage aufgeworfen, welche Probleme plötzliche Schicksalsschläge auslösen können, die von der Seele nicht richtig „verarbeitet“ wurden. Ausgezeichnet wurde „next to normal“ im Jahr 2009 mit mehreren Tony Awards und im Jahr 2010 mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie Drama. Seit der deutschen Erstaufführung im Jahr 2013 bei der Titus Hoffmann nicht nur Regie führte, sondern gleichzeitig eine exzellente deutsche Übersetzung ablieferte, wird diese immer wieder mal in Deutschland, Österreich oder der Schweiz aufgeführt, seit dem vergangenen Wochenende nun auch am Landestheater Coburg.
Um es vorwegzunehmen, lautstark bejubelte das Premierenpublikum nach gut 2 ½ Stunden Aufführungsdauer alle Darsteller, Musiker und das gesamte Kreativteam. Die Inszenierung von Matthias Straub liefert hierbei neben einem Einblick in das Familienleben der Goodmans einen ebenso spannenden Einblick in die Seele von Diana. Hierzu entwickelte Till Kuhnert ein Bühnenbild, welches wie in nahezu allen bisherigen Inszenierungen selbstredend das Eigenheim der Familie in den Mittelpunkt stellt. In einigen ausgewählten Szenen, beispielsweise beim eindringlichen „Mir fehl´n die Berge“ dreht sich die Bühne zu einer inneren Landschaft aus dunklen Wellen, Strudeln und allerlei gefährlich aussehenden Brandungen. Eine hochemotionale und gelungen Regiearbeit, die auch dadurch überzeugen kann, dass das traute Eigenheim im Verlauf des zweiten Aktes immer mehr Löcher und Risse bekommt und am Ende nur noch wenig hiervon übrigbleiben soll. Zur gelungenen Inszenierung gesellt sich die wunderbare Musik von Tom Kitt, der aus den unterschiedlichsten Genres ein einheitliches Gesamtwerk geschaffen hat, wie dies selten zu finden ist. Unter der musikalischen Leitung von Roland Fister glänzt die Band aus Violine, Keyboard, Cello, Gitarre, Klavier, Bass und Schlagzeug und bringt die einfühlsamen ebenso wie die rockigen Nummern des Abends treffend zu Gehör.
Auch bei der Besetzung kann sich die Coburger Inszenierung sehen und vor allem hören lassen. Die Rollen der Eltern wurden mit erfahrenen Musicaldarstellern besetzt. Als Diana ist Kerstin Ibald zu erleben, ihren Ehemann Dan verkörpert Christian Alexander Müller. Mit beiden leidet man stellenweise regelrecht mit, gesanglich sind beide erwartungsgemäß auf höchstem Niveau anzusiedeln. Die weiteren Rollen wurden aus dem hauseigenen Ensemble besetzt und auch hier zeigt das Landestheater ein gutes Gespür für die richtige Besetzung. Benjamin Hübner kann als Sohn Gabe ebenso überzeugen wie Lilian Prent als Tochter Natalie. Natalies Freund Henry wird von Lean Fargel treffend dargestellt, während Florian Graf die beiden Rollen des Dr. Madden und Dr. Fine übernimmt und hierbei beide Rollen entsprechend den Vorgaben sehr unterschiedlich anlegt. Wie steht es so schön im Programmheft: „Selten erlebt man in einer Arbeit eine solch clevere Verschachtelung von Texten, Musik und Handlung.“ Wenn eine solche Arbeit dann auch in der hier gebotenen Qualität auf die Bühne gebracht wird, dann kann man nur eine uneingeschränkte Besuchsempfehlung aussprechen. Bei vielen Musicalfans ist „next to normal“ ohnehin ein beliebtes Werk, aber auch dem ein oder anderen Operngänger, der sich bislang von den inzwischen oftmals sehr hochwertigen Musicalproduktionen landauf landab noch ferngehalten hat, sollte hier über einen Besuch nachdenken, es erwartet ihn ein hochemotionaler Theaterabend.
Markus Lamers, 04.10.2021
Fotos: © Annemone Taake