Coburg: „Das Rheingold“

Premiere: 29.9. 2019. Besuchte Vorstellung: 9.1. 2020

Die Frage war, glaube ich, nicht ob, sondern wie sie es schaffen: Wagners „Vorabend“ so auf die Bühne und in den Orchestergraben zu bringen, dass er klingt. Das Landestheater Coburg hat es, nach 55 „Ring“losen Jahren, tatsächlich geschafft – das „Rheingold“ klingt ungefähr so, wie man es gewohnt ist, und wo es leicht anders tönt, weil 57 Musiker eben keine 107 Instrumente spielen können (wenn man einmal die 16 Ambosse abzieht, die hier eh, wie auch an größeren Häusern, vom Band kommen), klingt es nicht schlechter. Denn in einem kleinen Haus wie dem Coburger vermögen ein halbes Hundert Musiker in einem äußerst engen Orchestergraben genauso viel und genügend Druck zu geben wie 100 Mann in einem großen Haus. Insofern war die Frage, ob es nicht gewagt sei, mit einem vergleichsweise kleinen Orchester an das „Rheingold“ zu gehen, eher naiv: denn Coburg klingt per se anders als die Metropolitan Opera, braucht also viel weniger Streicher, Bläser und Schlagzeuger, um den von Wagner intendierten Zauber ins Werk zu setzen.

Im Gegenteil: gerade die Reduktion schafft im Coburger „Rheingold“, das unendlich viele kammermusikalische Stellen besitzt, immer wieder bezwingende subtile Instrumentalmomente. Wenn sich wenige tiefe Streicher verbünden oder ein paar wenige Holzbläser miteinander in Kontakt geraten, sind wir akustische Zeugen eines modernen musikalischen Theaters, das Wagners bekannter Forderung nach Deutlichkeit optimal entgegenkommt, ohne indes den Klang zu verdünnen. Also: Die Kombination von „Coburger Fassung“ (1906/07 vermutlich geschaffen von Alfons Abbas) und „Lessing-Fassung“ von 1943 (mit den „Sonderinstrumenten“ Wagnertuba und Basstrompete) reichte, von ganz wenigen Passagen abgesehen, völlig aus, um ein Klangerlebnis zu schaffen, das freilich deutlicher ausfällt als im verdeckten Graben, für den das „Rheingold“ bekanntlich nicht geschaffen wurde. Also hört man vom ersten Takt alles so deutlich heraus, wie es – meist – gewünscht wurde: allem unreflektierten Gerede vom angeblich idealen Bayreuther Mischklang zum Trotz. Und klingen dynamisch herausragende Passagen wie der brachiale Auftritt der Riesen oder die Kulmination des Aufschichtens des Horts nicht noch beeindruckender, wenn wir zuvor ein paar Instrumente weniger gehört haben? Zugegeben: das Vorspiel könnte indirekter, gleichsam mystischer, also weniger analytisch anheben, aber man kann als aufmerksamer Musikhörer nun wirklich nicht alles haben. Das bewusst bombastische Finale, das den Untergang der Götter mit brutaler Ironie schon ankündigt, klingt auch in Coburg, so, wie es klingen soll – der Rest ist, unter der genauen Leitung von Roland Kluttig, ein schönes, präzis austariertes musikalisches Hörspiel mit genauesten Akzenten und einem manchmal erstaunlich schnellen, dem Konversationsstil des Werks angemessenen Tempo: vor allem in der Riesenszene des 2. Bilds.

Die Qualität liegt freilich auch bei den Sängern. Selten hört man einen Alberich, der seine Meinungs- und Schmerzensäußerungen so wenig bellend herausbringt wie Martin Trepl, der bis vor kurzem noch als 1. Bass im Chor des Landestheaters sang. Wagner wäre schon deshalb glücklich gewesen, auch dieses „Rheingold“ zu hören, wenn er Trepl wahrgenommen hätte, der mit größter Deutlichkeit seinen Part singt und spielt, insofern Wagners Ideal des singenden Schauspielers bzw. schauspielernden Sängers nahe kommt. Gleiches gilt für den gestisch und vokal beweglichen Loge des Gastes Simeon Esper. Nur wenige Rollen mussten mit Gästen besetzt werden; aus dem Haus kommt daher auch der Wotan: Michael Lion erfährt damit eine Krönung seiner Laufbahn, auch wenn der sensible Hörer bei manchen seiner Tremoli bei einzelnen dramatischen Spitzenpassagen (andere nennen das „Schollern“) leicht zusammenzucken mag. Es verschlägt nur wenig, denn zusammen mit der Fricka der Kora Pavelic bietet er das Bild eines verzankten Götterpaars, dem das Beziehungsende schon eingezeichnet ist: er, ein Mann noch im archaisierenden Pelzmantel, der sich die Tür nach draußen offen hält, sie eine Lady, die bei offiziellen Anlässen die Weißhaarperücke aufsetzt, um mehr zu scheinen als sie ist.

Die Aufführung wurde übrigens gerettet von einem Sänger einer kleinen, aber doch nicht ganz unwichtigen Partie. Auch das ist bisweilen Theateralltag: Theodore Brown kam erst 90 Minuten vor Beginn der Vorstellung im Haus an, um den Froh szenisch einzustudieren; gesungen hat er dann so, wie man sich den Gesang des geborenen Playboys und Bruder der Sexgöttin Freia (Olga Shurshina) vorstellt: schlicht schön. Unter den beiden Riesen ragt, was bei den beiden Riesen so üblich ist, der Fafner, also Bartosz Araskiewicz, in bassmässiger Hinsicht heraus, während sein Bruder Fasolt mit Felix Rathgeber eher bassbaritonale Statur hat: ein guter Kontrast. Auch der Mime des Dirk Mestmacher ist nicht nur unter der Prämisse, dass die Partei einem Tenor gehört, leicht(er) gefügt, gleichwohl ein würdiger Bruder seines Bruders. Marvin Zobel singt einen ausgeglichenen, durchaus nicht donnernden Donner, und die drei Rheintöchter – Laura Incko, Dimitra Kotidou und Emily Lorini – passen nicht nur optisch zusammen.

Bleibt die wunderbar timbrierte, samtdunkle, noble Erda der Evelyn Krahe. Auch sie ist ein Gast auf der Coburger Bühne, und zwar: buchstäblich. Denn sie gehört zu den Besuchern des Museums, die sich im ersten Bild zusammenfinden, um sich die in den Vitrinen stehenden Rheintöchter anzuschauen. Der Regisseur Alexander Müller-Elmau hat sich als sein eigener Bühnenbildner eine Welt zusammengebaut, in der Mythos und Moderne, unsere Gegenwart und Wagners mythische Vergangenheit auf der Drehbühne, die mit bewusst offener Verwandlung die Illusionen reduziert, zusammentreffen. Der Meinung der Dramaturgie, dass Wagner diese Anti-Illusion gefallen hätte, muss wieder einmal mit dem Hinweis auf Wagners Überzeugung von der Überwältigung des Publikums widersprochen werden, aber man wird sehen, wie sich dieser „Ring“ weiter entwickelt. Dass gefährliche Szenen wie die Selbstverwandlung Alberichs in einen „Riesenwurm“ problematisch sind, ist ja nichts Neues; Ulrich Strohauer sagte in seinem Ring-Buch „Wolken über Walhall“ anlässlich dieser Szene, die selten überzeugt, dass „Klamauk und Klassiker gutnachbarlich nebeneinander liegen“. In Coburg erhebt sich einfach das Riesengehirn – Symbol des Rheingolds als intellektueller Verstand – mit einem immer länger werdenden Sack in die Höhe. Was soll man auch sonst mit dem Gehirn als Symbol machen, das später auch – und auch dies ist handwerklich fragwürdig – als Hort für Freias Lösung dient. Frage: Wo ist da die „Klinze“ im geschlossenen Hirnmantel? Wohingegen die Kröte tatsächlich eine schöne Kleinigkeit ist, die man unter einen Tarnhelm und in die Tasche stecken kann.

Wenn aber Szenen wie der Auftritt der Erda so gelingen wie hier, darf man als mündiger Zuschauer, der zwischen behaupteter Symbolik und versuchtem Realismus gerade dort unterscheiden kann, wo sich die von Wagner vorgeschriebenen Aktionen mit den szenischen Neudeutungen schlicht und einfach kaum vertragen – man darf also glücklich nach Hause gehen, wenn man gesehen hat, wie Erda auf- und wieder abtritt: als Besucherin des Museums. Denn Erda vermag, so der Regisseur, als Personifikation der Erde in vielen Gestalten zu erscheinen. Also zuckt es durch sie, die sich die Schmierenkomödie vom mehrfachen Raub des Rheingolds bzw. des Rings als Außenstehende so lange ansah, bis sie unbewusst (?) begriff, dass sie eingreifen müsse, um das Schlimmste zu verhindern. Und sie verschwindet wieder aus der Handlung: rätselnd über das, was sie, in der Nähe von Wotans Rabenjunge, gerade wie in Trance verkündet hat. Wir aber dürfen gespannt sein, wie sich Mythos und Moderne auch weiterhin beim Coburger „Ring“ begegnen werden, der seine musikalische Feuertaufe bestanden hat. Was die Szene betrifft, bleibt festzuhalten, dass ein widerspruchsfreier „Ring“, der Wagners Vorgaben und die nötigen modernen Interpretationen elegant verschmilzt, bislang noch kaum zu sehen war. Coburg macht da schon vieles richtig, denn der „Ring“ spielt bekanntlich nicht in irgendeiner Wirklichkeit, sondern auf dem Theater, wo nicht alles, aber vieles möglich ist – nicht zuletzt dank eines äußerst engagierten musikalischen Ensembles und einer optischen Ästhetik, die mit relativ wenigen Mitteln szenische Akzente setzt. Also: Auf in die Winterstürme!

Frank Piontek, 10.1. 2020

Fotos: © Sebastian Buff