So, wie uns die Konzertplanung der Symphoniekonzerte der Sächsischen Staatskapelle in der laufenden Spielzeit kaum mit Besonderheiten verwöhnte, brachte auch das siebte Saisonkonzert mit der dritten Symphonie von Johannes Brahms (1833-1897) und dem b-Moll-Klavierkonzert von Peter Tschaikowski (1840-1893) oft Gehörtes in den Semperbau. Aber bereits in der vorigen Saison überraschte uns Myung-Whun Chung mit Interpretationen von Brahms-vierter und Tschaikowskis sechster Symphonie, dass er mit den Musikern seines Stamm-Orchesters neue, bisher kaum erschlossene Sichtweiten erschließen kann.
Die Freundschaft Johannes Brahms mit den Rüdesheimer Winzern Laura und Rudolf von Beckerath (1833-1888) führte ihn im Mai 1883 nach Wiesbaden. Aus dem für wenige Tage geplanten Besuch wurde ein bis zum September dauernder Aufenthalt. Die Ruhe und Abgeschiedenheit der angemieteten Wohnung sowie die Möglichkeit, ausgedehnte Spaziergänge ins Taunusgebiet direkt ab Haus zu unternehmen waren Voraussetzungen, schöpferisch zu arbeiten. Brahms pflegte mit seinen musikalischen Einfällen spazieren zu gehen, die er erst aufschrieb, wenn sie gedanklich ausgereift waren. Gesellige Nachmittage und Abende in der Stadtwohnung der Winzer sowie eine Schwärmerei zu einer deutlich jüngeren Sängerin brachten den eher brummigen Brahms in eine gelöste Stimmung. Unter diesen Bedingungen entstand die als die „Brahmsistischste“ bezeichnete dritte Symphonie. Das Werk trägt von seinen Symphonien am deutlichsten die Züge seiner künstlerischen Wesensart: bei aller Leichtigkeit vereint die F-Dur-Tondichtung Herbheit und Innigkeit, kämpferischen Trotz sowie Liebe zum Volksliedhaften. Seine Friedfertigkeit aus der Ferienatmosphäre atmete Seelenfrieden, Freundlichkeit, Menschenliebe und Weltverständnis.
Der Erste Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle Myung-Whun Chung arbeitete sich bis zum Kern der Komposition, um mit Ausdrucksgewalt seiner Schönheit auf den Grund zu kommen. Im Kopfsatz nahm sich Chung die Zeit, um mit elastischer Beweglichkeit sowie interessanten Tempowechseln kleingliedrige Formulierungen und diffizile Abschattierungen vorzunehmen. Hymnisch, mit jubilierenden Akzenten und lyrischen Einschüben leistete er Detailarbeit. Im Allegro con brio konkurrierten Vitalität, Antrieb und Spannung mit Weichheit und Virtuosität. Die hervorragende Streicherbesetzung sorgte für weiche Pastelltöne, die dank der Artikulierungs- und Phrasierungsarbeit des Dirigenten feine Konturen erhielten.
Im Andante wurde die Instrumentation mit höchstem Feingefühl aufgefächert, die musikalische Struktur ausgelotet und mit altersweiser Gelassenheit zum Satzabschluss gebracht. Das Poco Allegretto, wunderbar durchhörbar, blieb dunkel interpretiert, dabei betont lyrisch und gefühlvoll ausgeführt. Eine kontrastierende Dynamik belebte das Allegro, begeisterten die hohen Spannungsmomente, wenn mit größter Selbstverständlichkeit kleine Motivgruppen in den musikalischen Fluss eingebaut, bis zum verwehenden Finalschluss gebracht wurden.
Peter Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) begann im Winter 1874/75 mit der Arbeit an seinem ersten Klavierkonzert. Da er noch über wenig Erfahrung im Umgang mit dem Klavier verfügte, wollte er die Erfahrungen des Pianisten und Direktors des Moskauer Konservatoriums Nikolai Rubinstein (1835-1881) nutzen. Tschaikowski widmete ihm seine Komposition, hoffte dass er das b-Moll-Konzert uraufführe und bekam aber eine barsche, der Komponist spricht sogar von einer im „Jupiterton“ formulierte Ablehnung. Zunächst hatte Rubinstein ruhig zugehört, bis er in der mehrfach auftretenden Tonfolge “Des-A“ das Monogramm von Tschaikowskis erster Verlobten Désirée Artôt De Padilla (1835-1907) erkennen musste.
Beim Engagement der aus Belgien stammenden Mezzosopranistin in Moskau im Jahre 1868 waren Tschaikowski und Rubinstein beide dem Charme und den künstlerischen Fähigkeiten der jungen Frau erlegen gewesen. Désirée gab damals den Werbungen Tschaikowskis nach, nahm seinen Heiratsantrag an und verlobte sich mit ihm. Die Musikwissenschaft postuliert allerdings dazu, Rubinstein habe die Verbindung aus fadenscheinigen Gründen hintertrieben: Russland verlöre seinen größten Komponisten, wenn dieser als Gatte einer Sängerin durch die Welt zöge. Die Mezzosopranistin beendete die Beziehung zu Tschaikowski, reiste über St. Petersburg ab und heiratete nur wenig später einen spanischen Bariton.
Von der Episode des Jahres 1868 war, neben einer der Frau Artôt gewidmeten „Romanze f-Moll für Klavier op. 5“, bei den beiden Musikern etwas Unbewältigtes zurück geblieben. Tschaikowski schickte dem vor allem als Pianist bekannten Hans von Bülow (1830-1894) die Partitur, der das Werk noch 1875 zur Aufführung und zum Erfolg brachte. Obwohl wegen des „Ohrwurm-Charakters“ der Introduktion gelegentlich als „Reißer“ und oberflächlich bezeichnet, gehört die zweite, im Jahr 1888 vom Komponisten vorgenommene Überarbeitung des „Konzertes für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23“ inzwischen zu den beliebtesten Stücken der Konzert-Programme und zum Repertoire eines jeden Pianisten.
Die im Juni 2020 im 11. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle geplante Aufführung des Tschaikowski-b-Mollkonzertes mit Seong-Jin Cho und Myung-Whun Chung war damals den Corona-Einschränkungen zum Opfer gefallen und wurde nun im 7. Symphoniekonzert 2023 nachgeholt. Der vor 28 Jahren in Seoul geborene Seong-Jin Cho lebt inzwischen in Berlin, versteht sich als „Wanderer zwischen den Kulturen“, und gehört mit seiner intuitiven Musikalität zu den weltweit führenden Pianisten seiner Generation.
Cho gehört nicht zu jenen Pianisten, die die Eröffnungsakkorde des b-Moll-Konzertes pulverisierend in die Tasten des Flügels hämmern. Er spielte die Introduktion mit Elan, Festigkeit und musizierte majestätisch mit technischer Brillanz den mit Kontrasten reichen ersten Satz. Eine leichtschwebende Melodie, die Tschaikowski auf einem Markt blinden Bettelmusikanten abgehört haben soll, führte er zu einer poetisch verträumten Kadenz, einem Monolog des Solisten.
Das Andante hatten Solist und Dirigent wie eine Naturbeschreibung der russischen Weite mit ihren Birkenwäldern angelegt. Nach dem einleitenden Flöten-Solo prägten lyrische Passagen den Satzverlauf, bis irrwitzige und spukhafte Scherzo-Elemente in den musikalischen Fluss eingestreut wurden. Mittels seines faszinierenden Tastenanschlags rückte Cho mit einer verträumten Kadenz die Stimmung wieder gerade. Myung-Whun Chung vermied eine simple Gegenüberstellung des Orchesters mit dem Solisten und schuf mit den eingestreuten Bläser-Soli ein packendes dialogisches Miteinander, indem sich die Staatskapelle mit Cho regelrecht umarmte.
Eine übermütige enthusiastische Volksfeststimmung mit Pizzicato-Streichern und huschenden Holzbläsern begleitete den virtuos-anspruchsvollen Solopart des feurigen Allegro –Finalsatzes. Der abschließende Sprint über die Gesamtheit der Klavier-Tastatur beschloss die eindrucksvolle Demonstration der perfekten Technik des Seong-Jin Cho.
Mit einer kultiviert gespielten Bach-Zugabe bedankte sich Cho bei den Besuchern für die emphatischen Beifallskundgebungen und demonstrierte seine besonderen Fähigkeiten sensible Tongebung, spannende Melodik mit formaler Klarheit zu kombinieren.
Fast unmittelbar nach der Matinee brachen Myung-Whun Chung, Seong-Jin Cho mit einer Musikergruppe in Orchesterbesetzung zu einer Tournee nach Süd-Korea auf. Die Tournee ist dem 70. Geburtstag des Ersten Gastdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Myung-Whun Chung gewidmet. Neben dem Tschaikowski-Klavierkonzert stehen alle vier Brahms-Symphonien auf den Programmen.
Thomas Thielemann 27. Februar 2023
Semperoper Dresden
26. Februar 2023
Matinee des 7. Symphoniekonzerts der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Johannes Brahms: Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90
Peter I. Tschaikowski: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23
Dirigent: Myung-Whun Chung
Seong-Jin Cho – Klavier
Sächsische Staatskapelle Dresden