Seit der vergangenen Spielzeit ist an der Staatsoper Stuttgart behände an einem neuen Ring des Nibelungen geschmiedet worden. Mit der Götterdämmerung, die vor einigen Wochen Premiere hatte, ging das großangelegte Projekt triumphal in die Endrunde. Wieder, wie früher schon in der Ära Klaus Zehelein, hatte die Opernleitung die vier Musikdramen unterschiedlichen Regieteams anvertraut – ein Vorgehen, das sich auch dieses Mal wieder voll und ganz bewährt hat. Nun startete die Stuttgarter Oper mit der ersten zyklischen Aufführung des gesamten Ring. Den Anfang bildete ein gelungenes Rheingold.
Für die Inszenierung zeichneten Stephan Kimmig (Regie), Katja Haß (Bühnenbild) und Anja Rabes (Kostüme) verantwortlich. Was das Regieteam auf die Bühne brachte, war recht beachtlich. Gelungen war schon der Einfall, die Handlung in einem Zirkusambiente anzusiedeln. Zu Beginn wird ein Passus aus Wagners Revolutionsschriften auf den Hintergrund projiziert: Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge…Zentrale Relevanz kommt hier dem Begriff Zerstören zu. Dem trägt Kimmig Rechnung, wenn er dem eigentlichen Geschehen eine Katastrophe vorangehen lässt. Dass diese eine Revolution gewesen sein kann, die den Zirkus schwer beschädigt hat, ist nicht ausgeschlossen. In ständiges Dunkel gehüllt, konfrontiert er das Publikum mit einem wahren Alptraum. Wir haben es hier gleichsam mit einem Nachtzirkus zu tun, in dem sich vielfältige Spukgestalten tummeln und in dem Brüche verständlich gemacht werden. Als Direktor dieses maroden Zirkusbetriebes fungiert Wotan. Indes hat er seine frühere Größe verloren und nicht mehr viel zu sagen. Er verliert sich in Rollenspielen, in denen er gefangen ist. Einen Speer hat er in dieser Produktion nicht, dafür verfügt er noch über beide Augen. Auch seine ebenfalls dem Zirkus entsprungene Familie weist dunkle Saiten auf.
Gekonnt wartet der Regisseur mit einer ambivalenten Zeichnung der einzelnen Figuren auf. Die Götter frönen in diesem Nachtzirkus der Langeweile. Zum Zeitvertreib kippen sie Energy-Drinks und Bier in sich rein und beobachten zwei ihre Künste darbietenden Artistinnen. Im Gegensatz zu dem Göttervater beginnt der Alkohol bei der herumtorkelnden Fricka bereits zu wirken. Und die äußerst intensiv gezeichnet Freia scheint sogar noch sehr viel mehr Hochprozentigeres zu genießen. Donner und Froh treiben Sport, bewegen sich in Kettcars fort und rudern. Wenn im vierten Bild nach dem Gewitterzauber an sämtliche Angehörige der Götterfamilie Regenmäntel verteilt werden, ist Donner der einzige, der sein Regencape wieder auszieht. Das ist verständlich, denn als Donnergott benötigt er ein solches nicht. Die in gelben Gabelstaplern hereinfahrenden Brüder Fasolt und Fafner sind Bauriesen. Ihnen gehört eine Baufirma. Freia fühlt sich stark zu Fasolt hingezogen. Offenbar leidet sie an dem Stockholm-Syndrom. Einmal schmiegt sie sich liebevoll an ihren Entführer. Nachdem Fafner seinen Bruder mit einem Messer erstochen hat, reagiert sie betroffen. Eine hervorragende neue Idee seitens der Regie war es, dass Fasolt hier anscheinend nur scheintot ist. Am Ende erhebt er sich und ergeht sich in einem langsamen Tänzchen mit Freia. Der gänzlich schwarz gekleidete Loge wirkt sehr diabolisch. Er ist hier ein intellektueller moderner Philosoph, der auch mal sowohl den Ring als auch den Tarnhelm in Händen halten darf. Schlagartig wird ihm bewusst, über welche Macht er da für einen kurzen Augenblick verfügt. Dennoch reicht er den Ring an Wotan weiter. Alberich wird zunächst als langhaariges Mitglied der Unterschicht interpretiert. In der Nibelheim-Szene mutiert er zu einem neureichen Emporkömmling mit etwas kürzeren Haaren. Im vierten Bild wird er von Wotan und Loge immer wieder auf einer Wurfscheibe herumgedreht. Den Göttern bereitet es offenbar Freude, ihn zu quälen. Die von Kindern verkörperten Nibelungen arbeiten an einem Tisch. Mime verpasst Kimmig das Outfit eines Clowns.
Die Rheintöchter erscheinen als Schülerinnen eines Eliteinternats. Sie sind überzeugte Vertreterinnen der Friday-for-Future-Bewegung. Sie langweilen sich ebenfalls ganz gehörig. Da kann auch das ständige Hantieren mit Handys keine Abhilfe schaffen. Das gelingt erst Alberich, den die elegant gekleideten Mädchen für ein Experiment funktionalisieren. Dessen Ziel besteht darin, die Zirkuswelt wieder zu beleben. Eine von ihnen schafft schließlich das Rheingold aus dem Safe des Vaters herbei. Im Folgenden reflektieren die Rheintöchter über die Bedeutung des Goldes und die aus ihm resultierenden Möglichkeiten. Die gewalttätige Reaktion Alberichs, der sich mit dem Schatz in einer Schubkarre davonmacht, haben sie allerdings nicht einkalkuliert. Im Verlauf des Stücks sind die Rheintöchter auch weiterhin immer wieder präsent. Neugierig beobachten sie, was da vor ihren Augen vor sich geht, und machen sich eifrig Notizen. Das Experiment ist noch nicht beendet. Mit Tschechow’ schen Elementen kann der Regisseur umgehen. Die auf einem grünen Männer-Fahrrad erscheinende Erda ist bei Kimmig eine Klimaschutz-Aktivistin, die stark Greta Thunberg nacheifert. Spätestens in diesem Augenblick wird deutlich, dass es in dieser Inszenierung auch um Naturschutz geht. Walhall ist hier an keiner Stelle zu sehen. Die Götterburg versteht das Regieteam als geistigen Ort einer Möglichkeit zur Verbesserung der Welt. Die ebenfalls unsichtbar bleibende Regenbogenbrücke deutet Kimmig als die dazu erforderlichen Mittel. Am Ende tragen die Rheintöchter ein Transparent mit der Aufschrift Lasst alle Feigheit fahren herein. Das gemahnt stark an Dante und ist als Aufforderung zu verstehen, alle vorhandenen positiven Energien zu bündeln sowie an diese zu glauben. Das war alles recht überzeugend und mit Hilfe einer flüssigen Personenregie auch ansprechend umgesetzt.
Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist hier Robin Adams zu nennen, der mit sauber fokussiertem, hellem und tragfähigem sowie vorbildlich italienisch geschultem Bariton einen hervorragenden jungen und agilen Alberich sang. Eine Extralob gebührt ihm für sein Singen auf der Wurfscheibe. In nichts nach stand ihm Goran Juric, der mit tiefgründigem, sonorem und ausdrucksstarkem Bass dem Wotan ein beachtliches Profil gab. Eine treffliche Leistung erbrachte Matthias Klink als windiger Feuergott Loge, dem er auch stimmlich mit seinem gut gestützten, voluminösen Tenor voll und ganz entsprach. Rachael Wilson war eine kraftvoll intonierende, darstellerisch äußerst robuste Fricka. Vokal elegant und gediegen gab Esther Dierkes die Freia. In der Partie der Erda glänzte die tiefsinnig und sehr emotional singende Stine Marie Fischer, die ihren Part zudem mit enormer innerer Beteiligung ausstattete. Der Mime von Elmar Gilbertsson zeichnete sich durch eine vorbildliche Körperstütze seines Tenors aus. Letztere ging dem den Froh ausgesprochen dünn intonierenden Moritz Kallenberg gänzlich ab. Einen klangvollen Bariton brachte Pawel Konik für den Donner mit. Mit prächtigem, bestens fundiertem und elegant geführtem hellem Bass stattete David Steffens den Fasolt aus. In der Rolle des Fafner bewährte sich der über profundes Bass-Material verfügende Liang Li. Die tadellosen Rheintöchter von Eliza Boom (Woglinde), Ida Ränzlöv (Wellgunde) und Aytaj Shikhalizade (Floßhilde) bildeten einen homogenen Gesamtklang.
Zunächst nicht gerade in Bestform präsentierte sich das Staatsorchester Stuttgart. Zu Beginn kam es mehrmals zu unschönen Patzern in den Hörnern. Dieses Problem bekam GMD Cornelius Meister aber rasch in den Griff und animierte die Musiker im Folgenden zu einem intensiven, spannungsgeladenen und farbenreichen Spiel. Die von Meister angeschlagenen Tempi waren recht langsam, was indes einer ausgezeichneten Transparenz Vorschub leistete.
Ludwig Steinbach, 4. März 2023
„Das Rheingold“
Richard Wagner
Staatsoper Stuttgart
Besuchte Aufführung: 3. März 2023
Premiere: 21. November 2021
Inszenierung: Stephan Kimmig
Bühnenbild: Katja Haß
Kostüme: Anja Rabes
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart