Stuttgart: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

Mit einer rundum gelungenen Götterdämmerung endete der neue Ring-Zyklus an der Staatsoper Stuttgart. Zwei Jahre ist an diesem Projekt geschmiedet worden, und das Ergebnis kann sich insgesamt sehen lassen. Wie auch bereits in dem denkwürdigen Vorgänger-Ring aus der Ära Klaus Zehelein zeichnen auch hier wieder mehrere Regisseure für die Aufführungen verantwortlich – ein Vorgehen, das sich bestens bewährt hat. Bei der Götterdämmerung sind es nun Regisseur Marco Storman, Demian Wohler (Bühnenbild) und Sara Schwartz (Kostüme), die für die Produktion verantwortlich sind. Das Team hat durchweg ansprechende Arbeit geleistet. Das Ganze war trefflich durchdacht und mit Hilfe einer flüssigen, stringenten Personenregie eindrucksvoll auf die Bühne gebracht.

(c) Matthias Baus

Ausgangspunkt von Stormans Interpretation sind Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt keinem Zweifel unterliegt. Der althergebrachte Erzählmodus funktioniert nicht mehr, alle vorhergehenden Wahrheiten sind aufgelöst. Die bis zum Rheingold zurückreichende Vorgeschichte wird von den verschiedenen Personen benutzt, um eine eigene, neue Wahrheit zu kreieren. Das ist nicht so einfach, denn die Vorzeichen haben sich drastisch geändert. Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Apokalypse hat schon stattgefunden. Der alte Gesellschaftsvertrag ist aufgelöst. Aus dem Zerspringen des alten Systems resultieren Chaos und eine große Unsicherheit. Es sind Bilder einer im Auflösen begriffenen Wahrheit, mit denen der Regisseur den Zuschauer konfrontiert. Diesen symbolischen Bildern entsprechen echte Bilder, denen im Verlauf der Aufführung eine zentrale Rolle zukommt. An ihnen werden die Viel- und die Mehrdeutigkeit geschickt abgehandelt. Zuerst erscheinen sie in der ersten Szene des Vorspiels, wenn die als Kampffliegerinnen dargestellten Nornen sie aus einem Schrank holen, während die Weltesche bedrohlich vom Schnürboden herabschwebt. Hier dominieren ästhetisch schöne Männerakte, die größtenteils von dem Karl-May- Illustrator Sascha Schneider stammen. Siegfried und Winnetou treffen sich in diesen grandiosen Ölschinken, unter denen nur ein einziger weiblicher Akt zu sehen ist. Wagners freier Mensch und Karl Mays Edelmensch gehen hier eine ideale Verbindung ein. Nicht bloßes Heldentum wird mit diesen Bildern ausgedrückt, sondern etwas viel tiefer liegendes, Geistiges und Symbolhaftes. Es geht um das Produzieren einer neuen, tiefschürfenden Wahrheit, die von den Protagonisten zu eigenen Zwecken benutzt werden kann. Ob sie zutreffen, ist eine andere Frage. Die Bilder lösen die Wirklichkeit gleichsam ab. Die Frage nach der Verlässlichkeit der Wahrheit wird von dem Regisseur bestens abgehandelt. Das ist ein guter geistiger Ansatzpunkt, der voll überzeugt.

(c) Matthias Baus

Die Bilder ersetzen ebenfalls das Seil der Nornen.  An der Stelle, an der dieses gemäß Wagners Regieanweisung reißen soll, geht eines der Bilder zu Bruch. Das ist nur einer unter vielen gefälligen Regieeinfällen. Zu den Bildern offenbart sich eine rationalisierte Welt, die sich jeglicher zeitlichen Einordnung verschließt. Die Handlungsorte sind nicht eindeutig gezeichnet und können allen Zeitaltern und gleichzeitig auch keiner Epoche angehören. Es wird viel mit bildhaften Zitaten gearbeitet. Aus dem Wilden Westen Karl Mays stammt wohl der Totempfahl und aus dem alten Griechenland die Tempelsäulen. Die Mannen-Szene des zweiten Aufzuges, in der Hagen den Aufstand gegen das althergebrachte System probt, wird von Schamanenköpfen und Lorbeerkränzen dominiert. Einer der Mannen trägt die gelbe Walhall-Fahne, die Waltraute zuvor mitgebracht hatte, und die nun ihren Weg in die Gibichungen-Welt gefunden hat. Allgemein sind es Orte der Rede, die hier aufgezeigt werden, so eine romanische Kirche mit Kanzel sowie ein Parlament mit Rednertribüne und Mikrophonen. Der Natur verbunden ist Brünnhildes traditionelles Felsengemach. Diese Orte sind drehbar und vermischen sich immer wieder.

(c) Matthias Baus

Diesen visuellen Eindrücken entspricht eine eindringliche Figurenzeichnung. Siegfried hat so gar nichts Heldenhaftes an sich, sondern wird von der Regie als dummer, naiver Tölpel vorgeführt. Nachhaltig wird er von Unmittelbarkeit und spielerischer Freude beherrscht. Er ist ausgesprochen offen für die verschiedensten Einflüsse, die er indes nicht hinterfragen kann. Nachdem er sich in der letzten Szene des ersten Aufzuges in den schwächlichen Gibichungen-König Gunther verwandelt hat, trägt er bis zum Schluss dessen Gewandung und Haar. Die Rheintöchter treten ihm im dritten Aufzug im Kampffliegerdress der Nornen entgegen, die sich gleich diesen auf die Wahrsagerei verlegt haben. Die Rheintöchter als Nornen: Ein grandioser Einfall! In gleicher Weise überzeugend ist Stormans Idee, den Großteil der Figuren nur einen symbolischen Tod sterben zu lassen. Siegfried und Brünnhilde reiten am Ende auf dem riesigen Pferd Grane davon. Nur Hagen, der von der sich erneut herabsenkenden Weltesche erschlagen wird, stirbt einen wirklichen Tod. Ihm gilt auch der Haupteinfall der Regie: Hagen und Alberich werden in diese Produktion nämlich von demselben Sänger gesungen. Das gab es bisher noch nie, hat sich aber ausgezeichnet bewährt. Die ganze Szene spielt sich in Hagens Kopf ab. In einem Alptraum erscheint ihm das dämonische Über-Ich seines Vaters Alberich. Hier geht es sehr psychologisch zu. Sigmund Freud lässt grüßen. Hagen trägt Alberich in sich und hat dessen maliziösen Einflüsterungen, die an dieser Stelle wiederum an die Oberfläche steigen, aufs Beste verarbeitet. Alberichs Erziehung, die der Sohn stark verinnerlicht hat, trägt in dieser als Selbstgespräch gestalteten Szene ihre Früchte. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch Hagen einer ausgemachten Manipulation seitens seines Vaters unterworfen ist. Man muss sich fragen, ob er ohne diese auch so böse wäre. Die Zerrissenheit der Figur wird vom Regisseur jedenfalls ganz  hervorragend beleuchtet. Eine Götterdämmerung findet am Ende nicht statt. Hier dämmern nur Menschen, wenn auch – wie bereits gesagt – teilweise nur symbolhaft. Das Schlussbild zeigt eine Schar junger Mädchen, die sich mit Taschenlampen den Weg durch das Dunkel suchen. Die Kinder als Zukunft, ein Neustart ist möglich. Dieser Regieeinfall ist zwar nicht mehr neu, aber eindringlich und durchaus zutreffend.

(c) Matthias Baus

Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Bis auf einige tremolobehaftete Töne im oberen Stimmbereich gelang Christiane Libor mit solide sitzendem hochdramatischem Sopran eine insgesamt eindringliche vokale Studie der Brünnhilde. Insbesondere deren Schlussgesang war recht berührend. Daniel Kirch hatte sich die szenische Anlage des Siegfried durch die Regie trefflich zu eigen gemacht und mit seinem tadellos verankerten, klangvollen Tenor auch tadellos gesungen. Übertroffen wurden beide von Patrick Zielke, der mit hervorragend italienisch fokussiertem, voluminösem und zu schönen Piani fähigem Bass die beiden Partien des Hagen und des Alberich einfach grandios sang. In der ersten Szene des zweiten Aufzuges vermochte er die beiden Charaktere stimmlich genial voneinander abzugrenzen. Den Alberich gab er hier laut und ausladend, während er Hagen eine leisere, leicht introvertiert wirkende Tongebung angedeihen ließ. Das war die beste Leistung des Abends! Ebenfalls vorbildlich italienisch fundiert und sehr sonor sang Shigeo Ishino einen gefälligen Gunther. In der Rolle der Gutrune bewies die imposant intonierende Esther Dierkes, dass sie immer mehr in das dramatische Fach hineinwächst. Eine großartige Leistung erbrachte Stine Marie Fischer, die sich mit bestens fokussierter, sehr geradlinig und emotional geführter Altstimme als phänomenale Waltraute empfahl. Die drei Nornen waren bei Nicole Piccolomini, Ida Ränzlöv und Betsy Horne allesamt in bewährten Händen. Die Rheintöchter von Eliza Boom (Woglinde), Linsey Coppens (Wellgunde) und Martina Mikelic (Floßhilde) bildeten einen homogenen Gesamtklang. Mächtig legte sich der von Manuel Pujol gewissenhaft einstudierte Staatsopernchor Stuttgart ins Zeug.

Am Pult des trefflich disponierten und ausgesprochen klangschön aufspielenden Staatsorchesters Stuttgart waltete GMD Cornelius Meister seines Amtes. Er verpasste Wagners Werk einen gehörigen Schuss fulminanter Dramatik, ohne dabei die vielfältigen leisen und lyrischen Stellen aus dem Blick zu verlieren, was einen sehr differenzierten Klangteppich ergab. Gut gelang es ihm, die klangliche Balance zu halten und die vielfältigen musikalischen Strukturen offenzulegen. Zu laut wurde es dabei nie. Sein Dirigat erwies sich als recht sängerfreundlich.

Fazit: Eine in jeder Beziehung grandiose Aufführung, die die Fahrt nach Stuttgart wieder einmal voll und ganz gelohnt hat!

Ludwig Steinbach, 13. Februar 2023


„Götterdämmerung“
Richard Wagner

Staatsoper Stuttgart

Besuchte Aufführung: 12. Februar 2023
Premiere: 29. Januar 2023

Inszenierung: Marco Storman
Bühnenbild: Demian Wohler
Musikalische Leitung: GMD Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart