1. September 2019 in der Semperoper
Junge Talente treffen auf Jahrzehnte Pulterfahrung
Nachdem 1976 das Jugendorchester der Europäischen Union seine Tätigkeit aufgenommen hatte, bemühte sich eine Gruppe um Claudio Abbado (1933-2014), das gemeinsame Musizieren auch jungen österreichischen Musikern mit Kollegen aus der Tschechoslowakei und Ungarn zu ermöglichen. Im Jahre 1978 wurde deshalb das „European Community Youth Orchestra“ gegründet, um freie Probespiele in Ländern des Ostblocks zu ermöglichen. 1986 formte Abbado aus der zunächst lockeren Vereinigung das „Gustav Mahler Jugendorchester“, das seit 1992 für junge Musiker bis zum 26. Lebensjahr aus ganz Europa zugänglich wurde. Damit war das einzige internationale Jugendorchester, das künstlerisch und organisatorisch unabhängig von öffentlichen, institutionellen sowie privatwirtschaftlichen Trägern tätig ist, entstanden. Seine Tätigkeit ist nicht gewinnorientiert und gilt heute als die Talentschmiede für europäische Orchestermusiker.
Alljährlich bewerben sich über 2000 Musiker, von denen die talentiertesten in die Orchesterprojekte, den Auftritten in renommierten Konzertsälen und führenden Festivals, einbezogen werden. Dann arbeiten sie mit den bedeutendsten Dirigenten und Solisten unserer Zeit zusammen und sammeln so Erfahrungen, die für ihre künftige Laufbahn als Profi-Musiker entscheidend werden können. Musiker der sächsischen Staatskapelle, so der 1. Konzertmeister Matthias Wollong, die Solooboistin Céline Moinet, der Solokontrabassist Petr Popelka und zwölf weitere jetzige Mitglieder sind über das Jugendorchester nach Dresden gekommen. Auch in der Dresdner Philharmonie sind acht „Ehemalige“ tätig.
Im sächsischen Konzertleben hat das Gustav-Mahler-Jugendorchester inzwischen einen festen Platz. Mit der „Sächsischen Staatskapelle“ verbindet das Orchester ein Kooperationsvertrag.
Das Konzert am 1. Semper 2019 im Semperbau war eine Hommage an ein Konzert vom 8. September 2010 mit dem gleichen Dirigenten Herbert Blomstedt, dem identischen Solisten Christian Gerhaher und einem vergleichbaren Programm: „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler und der 9. Symphonie von Anton Bruckner.
Nun traf wieder die jahrzehntelange Pulterfahrung auf den jungen Künstlernachwuchs. Auch einer der profiliertesten Lied- und Konzertsänger Christian Gerherhar gestaltete wieder einen Teil des Konzerts, diesmal am Beginn des Abends mit den „Rückert-Liedern“ von Gustav Mahler.
Friedrich Rückert (1788-1866) war als Sprachgelehrter, der sich mit über 40 Sprachen beschäftigt hatte, einer der Begründer der deutschen Orientalistik und ein unwahrscheinlich kreativer Dichter. Mit seinen Gedichten kompensierte er seine Gefühlswelt. Nach dem Scharlach-Tode zweier seiner Kinder zum Jahreswechsel 1833 zu 1834 hat er allein zur Bewältigung seines Schmerzes 426 Gedichte geschrieben, von den einige Gustav Mahler für seine „Kindertotenlieder“ auswählte. Für seine „Rückert-Lieder“ wählte Mahler fünf selbstständige Einzelwerke Rückerts, die Mahler offenbar besonders berührten. Neben „Blicke mir nicht in die Lieder“, „Ich atme einen Linden Duft“, „Um Mitternacht“ und „Liebst du um Schönheit“ beeindruckte ihn besonders „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.
Christian Gerhaher sang mit klarem schlanken Bariton und vorbildlicher Textverständlichkeit in ruhigem Erzählton. Er konnte den jeweiligen Charakter der Lieder eindringlich verdeutlichen, auch mit zärtlicher Süße, wo es angebracht war. Dabei begeisterte vor allem seine natürliche Tongebung. Kein Forcieren, stattdessen Strahlkraft und subtile Schattierungen sowie Intellekt. Grandios seine Interpretation der Rückert´schen „Mitternacht“. Das erzeugte schon Schauer beim Hörenden.
Herbert Blomstedt begleitete mit dem Orchester zurückhaltend ohne Kontraste in idealer über die Jahre herausgebildeter Partnerschaft.
Anton Bruckner komponierte seine sechste Symphonie A-Dur (WAB 106) nach einer schöpferischen Pause von fünf Jahren 1879 bis 1881 unbeschwerter und weltlicher als die vorherigen. Der Komponist bezeichnete sie launig als seine „keckeste“ und war vom Ergebnis so befriedigt, dass er das Gefühl hatte, das Werk sei vollkommen. Er beließ seine Arbeit in der ursprünglichen Form, so dass erstmals von einer Bruckner-Symphonie keine Zweit- oder gar Drittfassung existiert. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass die Sechste sich erst spät im Konzertbetrieb etablieren konnte. Im Februar 1883 brachten die Wiener Philharmoniker nur die beiden Mittelsätze zur Aufführung. Auch Gustav Mahler hatte für die Gesamt-Erstaufführung 1899 die Instrumentierung stark verändert und das Werk gekürzt. Erst 1935 erklang unter Paul van Kempen die Komposition nach der von Robert Haas wieder rekonstruierten Original-Partitur. Aber erst durch die Aufnahme in Gesamteinspielungen und Bruckner-Zyklen hat sich die Sechste im Konzertbetrieb gleichberechtigt eingeführt.
Im zweiten Teil des Konzertes traf eine .jahrzehntelange Pulterfahrung auf den jungen Künstlernachwuchs. Bruckner-Dirigate mit Herbert Blomstedt haben wir mehrfach in den vergangenen Jahrzenten sowohl mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, als auch mit dem Gewandhausorchester Leipzig erleben dürfen. Da war der Vergleich seiner Dirigate der Spitzenorchester mit der Führung des Jugendorchesters durchaus aufschlussreich. Während Blomstedt die Profi-Klangkörper mit Gelassenheit führt und der Musik einen breiten Klang-Raum eröffnet, gab er dem Jugendorchester stärkere Impulse. Mit präziser, effektiver Zeichengebung hielt er die Fäden der musikalischen Entwicklung fest in der Hand und ließ seine Führung in den reichliche sechzig Minuten nicht für einen Augenblick schleifen.
Dies war auch bei den noch jungen Musikern notwendig. Denn während die Streicher auf hohem Niveau, mit Begeisterung und innerer Beteiligung musizierten, fehlte es bei den Bläsern an solistischen Initiativen. Insbesondere beim Adagio kamen die stark geforderten Hörner und Tuben an ihre technischen Grenzen. Dabei fing Blomstedt einiges dank seines gestalterischen Überblicks und seiner Präsenz als Interpret ab. Über Strecken wirkte dabei der greise Dirigent jugendlicher als eine Reihe der Orchestermusiker.
Bereits mit dem ersten Satz spürte man, wohin Blomstedt seine Musiker führen wollte. Ruhig lässt er Themen und Motivgruppen vorüberziehen. Auch mit der Durchführung spürt man, da dirigiert einer, der in der Tiefe seiner Seele Ruhe und Überblick schätzt. Sachlich bleibt auch der Satzschluss. Mit sachlicher Innigkeit wurden auch im Adagio die Bruckner-Themen miteinander verflochten. Nichts erhält den Eindruck von Sentimentalität oder gar Kitsch. Auch das Scherzo machte dem Dirigenten und den Musikern richtig Spaß, so dass Blomstedt das Orchester mit Freude in das Finale mit seinen Verzögerungen, Anspannungen sowie Entfesselungen regelrecht hineindrängen konnte.
Erwartungsgemäß wurde vor allem der in Dresden hochbeliebte und geschätzte Dirigent mit stehendem Applaus gefeiert. Aber auch das mit über einhundert Musikern stark besetzte Orchester konnte sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen.
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
Thomas Thielemann 2.9.2019