Giuseppe Verdis dritte Auseinandersetzung mit einer Vorlage aus dem dramatischen Schaffen Friedrich Schillers stellt einen gewichtigen Meilenstein im Reifeprozess des genialen Opernkomponisten dar. Dies wurde einem nach dieser packenden, ergreifenden Aufführung von LUISA MILLER an der Hamburger Staatsoper einmal mehr in Erinnerung gerufen – und man bedauert, dass diese so konzis gearbeitete Oper nicht öfter auf den Spielplänen auftaucht, vor allem wenn die Besetzung so grandios ist wie gestern Abend bei der letzten Vorstellung dieser Wiederaufnahme-Serie einer Produktion, die 2014 ihre Premiere erlebt hatte!
DER ÜBERFLIEGER
Der umjubeltste Sänger gestern Abend war ausgerechnet der Einspringer: Charles Castronovo sprang für Startenor Joseph Calleja ein und riss das Publikum mit seiner jugendlich-dramatisch attackierenden, dem Sturm-und-Drang Charakter Rodolfos so fantastisch entsprechenden, makellos geführten Tenorstimme von den Sitzen. Nun ist Castronovo natürlich auch kein Nobody der internationalen Opernszene: Der New Yorker debütierte 1999 an der Met, startete dann eine internationale Karriere, die ihn an die renommiertesten amerikanischen und europäischen Bühnen von San Francisco über Covent Garden an die Berliner, die Münchener und die Wiener Staatsoper führte, an die Festspiele in Glyndebourne und Salzburg. Sein Rodolfo zeichnete sich aber nicht nur durch ungestüme Dramatik, sondern auch durch mit gekonnten Lyrismen versehene, wunderbar verliebt schmachtende Phrasierung aus. In seiner wunderschönen (und diffizilen!) grossen Arie Quando le sere al placido flocht er wunderbar passend eine Portion Wehmut und Verzweiflung ein.
DIE TRAGISCHE FRAUENFIGUR
Als einzige der Premierenbesetzung kehrte die georgische Sopranistin Nino Machaidze an die Staatsoper zurück. Ihre leicht guttural-metallisch timbrierte Stimme mag für die einfache Bürgertochter vielleicht etwas zu reif klingen, nichtsdestotrotz verfügt sie aber nach wie vor über die jungmädchenhafte Leichtigkeit in der Auftrittsszene (ihr Geburtstagsfest). Im Verlauf der traurigen Intrige entwickelt sie sich zur tragischsten Figur des Abends, besticht mit ihrer unerschütterlichen Liebe zum Vater, für den sie ihr Liebesglück opfert. Hoch spannend gestaltete sie ihre Qualen in der Auseinandersetzung mit dem übergriffigen, intriganten Bösewicht Wurm, zu Tränen rührend in ihren Preghiere, verzweifelt im Suizidgedanken, den Geliebten tröstend im gemeinsamen Sterben. Ergreifend schön und intonationssicher legt sich ihre intensive, klangreiche Stimme über diejenigen der Männer und des Chors im genial komponierten Finale I.
DIE SCHULD DER VÄTER
Verdi gilt als der Komponist, der die Seelen von Vaterfiguren mit analytischer Genauigkeit musikalisch auszuloten verstand: Man denke an Rigoletto, Giorgio Germont in LA TRAVIATA, Philipp II. in DON CARLO, Simon Boccanegra, Nabucco … . In LUISA MILLER hat er gleich zwei Vaterfiguren musikalisches Leben eingehaucht, Luisas Vater Miller und Rodolfos Vater Il Conte di Walter. Franco Vassallo (er fiel mir bereits als Sharpless in der BUTTERFLY vor zwei Wochen hier am Haus so positiv auf) gestaltete mit seiner herrlichen Baritonstimme einen warmherzigen, mit Vaterliebe erfüllten Miller, der aber von seiner Tochter eben auch quasi eine Entscheidung für ihn und gegen Rodolfo fordert. Auch sein Gegenspieler, Vitalij Kowaljow als Conte di Walter, gibt vor, seine Verbrechen nur zum Wohle des Sohnes begangen zu haben. Kowaljow sang die Partie mit fantastischer Basssonorität.
INKARNATION DES BÖSEN
Das Böse schlechthin offenbart sich in der Partie des Wurm. Der schleimig durchtriebene Angestellte und Mann fürs Grobe in den Diensten des Grafen darf seinen Charakter zwar nicht in einer Arie offenbaren (wie Verdi sie später dem Jago in OTELLO mit dessen Credo zugestanden hatte), doch der oftmals beinahe flüsternd vorgetragene Sprechgesang und das packende Duett mit dem Conte Walter, sowie die intensive Briefszene mit versuchter Vergewaltigung Luisas enthüllen genug. Alexander Roslavets spielt und singt das alles mit unterschwelliger Gemeinheit, nie plump chargierend.
DIE EGOISTISCHE ARISTOKRATIN
Gegenspielerin der einfachen Bürgertochter Luisa ist die Herzogin Federica. Sie meint sich mit aristokratischen Privilegien einen jungen, hübschen Burschen (Rodolfo) ins Ehebett holen zu können, ohne Rücksicht auf die Gefühle der einfachen Menschen. Für diese relativ kleine, aber gesanglich anspruchsvolle und wichtige Partie wurde keine geringere als die großartige Elena Maximova verpflichtet. Sie begeisterte mit ihrem wunderbar satten, über erstaunliche Volumina in den tiefsten Lagen verfügenden Mezzosopran. Auch dank ihr wurde das Showstopper-a cappella Quartett (zusammen mit Nino Machaidze, Alexander Roslavets und Vitalij Kowaljow) zu einem der vielen Höhepunkte des Abends.
DIE SINFONIA
Verdi hielt nicht allzuviel von langen Ouvertüren, und wenn, dann waren sie im Potpourri Stil gehalten (z.B. NABUCCO oder LA FORZA DEL DESTINO). Gerade deshalb ist sein als SINFONIA betiteltes Vorspiel zu LUISA MILLER so ungewöhnlich und erwähnenswert. Aus einer langen und zwei kurzen Noten entwickelte er ein Kernmotiv, auf dem das ganze Vorspiel fußt. Dieses Motiv moduliert er immer wieder, lässt es durch Instrumentengruppen laufen, ändert so die Farbpalette. Paolo Arrivabeni leitete das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit wunderbar federnder Gestaltungskraft, und hielt die Fäden mit ruhiger, präziser Zeichengebung zusammen. Weshalb das keine leichte Aufgabe war, erläutere ich im nächsten Abschnitt.
DAS KAMMERSPIEL
Corona bedingt konnte die ursprüngliche Inszenierung von Andreas Homoki für diese Wiederaufnahme nicht 1:1 umgesetzt werden. Der Chor wurde in die Ranglogen "verbannt". So sah man auf der Bühne zwar das ursprüngliche Bühnenbild von Paul Zoller (Licht: Franck Evin) und die schön gearbeiteten, durch eine kluge Farbdramaturgie beeindruckenden Rokoko – Kostüme von Gideon Davey, doch die Oper näherte sich durch die szenische Abwesenheit des Chores einem albtraumartigen Kammerspiel an. Vor allem wenn Luisa zu Beginn des zweiten Aktes aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus von der Verhaftung ihres Vaters erfahren musste. Das war echt gespenstisch. Die Koordination mit dem Orchester war im Geburtstagsbild noch etwas getrübt, auch waren wohl akustisch bedingt einzelne Chorstimmen individuell vernehmbar, was dem Gesamtklang nicht so gut bekam. Erstaunlicherweise fiel das bei den weiteren Choreinsätzen überhaupt nicht mehr auf.
Die Personenführung war sehr zurückhaltend, unaufdringlich, was dem Stück gut bekam. Auch die Guillotine, welche im Programmheft auf Bildern noch zu sehen ist, tauchte nun nicht mehr auf. Konnte man verschmerzen. Unverständlich war für mich das dämliche Bewegungsvokabular, das der Regisseur Luisas Freundin Laura (hervorragend gesungen von Kady Evanyshyn) und dem Contadino (toll gesungen von Collin André Schöning) auferlegt hatte. Insgesamt aber war die Inszenierung mit den drei sich jeweils herausschiebenden, karg möblierten Räumen (eine Spezialität der Hamburger Bühne, welche das Herein- und Herausfahren ganzer Bühnenbilder ermöglicht) dem Stück sehr angemessen. Die bruchlosen Szenenübergänge deuteten Analogien unabhängig von Standesunterschieden an, der gewaltige Goldrahmen mit den den drei Aktüberschriften gerecht werdenden Gemälden verlieh dem Stück zusätzliche optische Atmosphäre. Großer und verdienter Applaus für alle Ausführenden. Die Aufführung hätte ein vollbesetztes Haus verdient gehabt.
Der Kauf des Programmhefts lohnt sich einmal mehr: Der erfrischend launig verfasste Essay von Wolfgang Willaschek über Verdis Versuch, ein Trauerspiel von Schiller in eine kongeniale Oper zu verwandeln, ist reinstes (und überaus informatives) Lesevergnügen!
Interessant auch immer die Auflistung bisheriger Inszenierungen der Werke in Hamburg: Luisa Miller wurde vor der Homoki-Inszenierung nur einmal produziert, nämlich 1981. Am Pult stand Giuseppe Sinopoli, es sangen Katia Ricciarelli, José Carreras, Leo Nucci, Ruggero Raimondi und Mariana Lipovšek. Auch da wäre man gerne dabei gewesen ;-))
Kaspar Sannemann, 2.4.2022
Bilder (c) Monika Rittershaus