Premiere am 30. Oktober 2021
Otellos Alpträume
In der Neuinszenierung von Verdis genialem Meisterwerk orientierten sich Regisseur Immo Karaman, Bühnenbildner Etienne Pluss und Kostümbildnerin Gesine Völlm an einer Charakterisierung des Textdichters Arrigo Boito, der Otello als Menschen bezeichnet hat, „der unter dem verhängnisvollen Zwang eines Alptraums denkt, handelt und leidet“. Das Regieteam verlegt die Handlung in die Gegenwart, sieht Otello als Kriegsheimkehrer an, der unter einer – derzeit durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr leider hochaktuell – posttraumatischen Belastungsstörung leidet und der in sein bürgerliches Leben nicht wieder zurück finden kann. In der Neuinszenierung hat man nun versucht, Otellos Alpträume in Bilder des Musiktheaters umzusetzen, was nicht durchgehend überzeugend gelang. Bevor die Musik begann, sah man auf einen etwas schäbigen, karg möblierten Raum (links Kühlschrank, rechts Matratze und dazwischen Tisch mit zwei Stühlen), in dem der mit Trainingshose, Unterhemd und Bademantel gekleidete Otello unruhig auf und ab ging. Dann öffnete sich die hintere Wand, und der hereinbrechende Gewittersturm mit Kanonendonner und unruhigen Video-Einblendungen von kriegerischen Handlungen (Video: Philipp Contag-Lada, Licht: Susanne Reinhardt) machten deutlich, dass das alles in der Rückerinnerung Otellos geschah; das gilt auch für das stimmlich blass wirkende „Esultate!“. Im weiteren Verlauf gab es manches Unverständliche und Ungereimte: Mal redeten Otello und Jago sichtbar aneinander vorbei, mal sprachen sie „richtig“ miteinander; im Finale des 3. Aktes wurde nach scheinbar realer Auseinandersetzung der Protagonisten der in Einheitskleidung und Konzertaufstellung singende Chor mit irrisierendem Flackerlicht versehen. Anschließend gab es einen Einbruch der Realität, indem Otello von realen (?) Polizeibeamten festgenommen wurde. Ebenso unschlüssig war der Auftritt der Choristen zum „Rache-Duett“ von Otello und Jago am Schluss des 2.Aktes, als sie im Zeitlupen-Tempo zu Boden gingen, offenbar weil sie von den grauen Scharfschützen an beiden Seiten der Bühne erschossen wurden.
Im Ablauf wirkte nicht alles konsequent; denn Otello trat im 3. Akt in sauberer Uniform auf, obwohl man erwartet hätte, dass er durchgehend im Bademantel agierte. Ganz am Schluss, nachdem er im bürgerlich-spießigen Schlafzimmer Desdemona getötet hatte, lag er wieder am Boden seines Zimmers, und seine Frau brachte ihm wie im „Liebesduett“ des 1.Aktes etwas zu essen – ein deutliches Zeichen dafür, dass nach dem Regiekonzept alles Vorangehende in den Träumen Otellos geschah. Auch blieb offen, ob sein Selbstmord Fantasie oder doch Realität war. Leider lenkte vieles der nicht immer verständlichen Inszenierung erheblich von der musikalischen Verwirklichung ab; eindeutig geprägt wurde sie von dem leidenschaftlichen Aufspielen des in allen Gruppen ausgezeichneten Niedersächsischen Staatsorchesters, das von GMD Stephan Zilias mit temperamentvollem, aber stets präzisem Dirigat zu ständigem Vorwärtsdrängen angetrieben wurde. Leider ließ er es jedoch oft allzu sehr lärmen, worunter Sängerinnen und Sänger jedenfalls in den unteren Lagen ihrer Partien zu leiden hatten.
Ein beachtliches Rollendebüt als Otello hatte Martin Muehle, der in der Konzeption der Regie fast ununterbrochen auf der Bühne präsent war und die Zwangszustände des geschundenen Kriegsheimkehrers glaubwürdig zu gestalten wusste. Seinen baritonal gefärbten Tenor führte der deutsch-brasilianische Sänger intonationssicher durch alle Lagen, wenn man sich auch manches noch differenzierter vorstellen könnte. Ein Genuss war der durchweg füllige Sopran von Barno Ismatullaeva als leidende Desdemona. Die usbekische Sängerin sang mit fast perfektem Legato, wobei das „Lied von der Weide“ und das anschließende „Ave Maria“ berückend schön gelangen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die links über dem Orchestergraben postierte Souffleuse ihre Stichworte viel zu laut und damit störend rüberbrachte.
Pavel Yankovsky war mit reichlich eindimensionalem Bariton der intrigante Jago, den der belarussische Sänger viel zu oft nur mit Lautstärke statt mit der gehörigen Dämonie versah. Schönstimmig sang Marco Lee Cassio, während die Russin Ruzana Grigorian Emilia mit angenehmem, volltimbriertem Mezzo gab. Der sonore Bass des Finnen Markus Suihkonen passte gut zum Lodovico; sicher ergänzten Peter O’Reilly (Roderigo), Yannick Spanier (Montano) und Gagik Vardanyan (Herold). Von klangprächtiger und gut ausgewogener Stimmkraft zeigte sich der nun wieder in vollständiger Besetzung auftretende Chor (Lorenzo Da Rio).
Das Premierenpublikum feierte vor allem die Sängerinnen und Sänger mit begeistertem Beifall, während das Regieteam einige Buh-Rufe hinzunehmen hatte.
Fotos: © Sandra Then
Gerhard Eckels 31. Oktober 2021
Weitere Vorstellungen: 3.,5.,11.,13.,21,.28.11.2021 u.a.