Grandios ausgearbeitete Dramatik – szenisch und musikalisch
Das Bühnenbild ähnelt einem expressionistischen Landschaftsgemälde, wie es zur Entstehungszeit der Oper en vogue war: Die schräge Schraffur der Wände breiten Pinselstrichen gleichend, die Perspektive extrem zugespitzt. Im ersten und dritten Akt leuchten die Farben kraftvoll – doch die dadurch signalisierte Freude und Lebenslust ist trügerisch. Umso beklemmender wirkt die Düsternis des zweiten, längsten und dramaturgisch entscheidenden Akts. Der Hintergrund dient zuweilen als Schauplatz für Illusionäres: Ereignisse der Vergangenheit oder inneren Erlebens, gnadenlose Gewissensforschung oder Selbstanklage.
Regisseur Floris Visser und Bühnenbildnerin Dieuweke van Reij übersetzen die Expressivität und Gewaltsamkeit der Musik von Janaceks erster Erfolgsoper in ausdrucksstarke Bilder. Zugleich ist diese leicht verfremdete und doch realistische Szenerie optische Entsprechung der Musik: Janacek setzt auf die „Sprachmelodie“, die insbesondere das Tschechische auszeichnet. Das Libretto ist daher keine Lyrik, sondern Prosa, der Gesang fast so vollkommen natürlich wie das Sprechen. In dieser Inszenierung ist dies durch die Sänger so perfekt realisiert, dass ihre Aussagen selbst dann, wenn man die Übertitel nicht mitverfolgt, mühelos verstehbar sind. Die Persönlichkeit der dargestellten Protagonisten „scheint“ durch die Sprache und die Musik, in die sie gesetzt ist, hindurch – exakt so, wie es die Progammankündigung der Staatsoper Hannover verspricht.
Wie hervorragend das Zusammenspiel von Sprache, Musik und Bühnenbild in dieser Inszenierung funktioniert, zeigt sich am bewegendsten im zweiten Akt: Die wütende Küsterin will Jenufa schlagen – und fällt sich selbst in den erhobenen Arm, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie wurde früher, von ihrem Mann, selbst geschlagen – wie der Zuschauer aufgrund einer dramatischen kleinen „Erinnerungssequzenz“ im ersten Akt weiß. Spätestens in diesem Moment ist auch vollkommen klar, dass nicht Jenufa die Hauptperson ist, sondern ihre Stiefmutter.
Der Regisseur liefert mit diesem Kunstgriff sehr viel mehr als eine schlüssige Konzeption dieser Oper, die eigentlich, wie die Dramavorlage, „Ihre Stieftocher“ hätte heißen sollen – was auf die Küsterin verweist. Diese vom Leben verhärmte Frau ist geradezu „leitmotivische“ Figur für zwei direkt auf „Jenufa“ folgende Janacek-Opern: In „Katja Kabanowa“ erscheint sie als gestrenge Schwiegermutter der (Jenufa ähnelnden) Titelheldin, in „Das schlaue Füchslein“ als verbitterte Försterin. Erst wenn man – durch diese brillante „Jenufa“-Inszenierung – die verwundete Seele der Küsterin entdeckt und verstanden hat, kann man auch mit ihren beiden Schwestern im Geiste jener späteren Janacek-Opern fühlen. Und ebenso, wie Jenufa am Schluss aufgrund ihres Mitfühlens verzeihen kann, wird auch Schwiegermutter und Försterin Verzeihung zuteil werden – durch den nun an ihrem (unausgesprochenen) Unglück Anteil nehmenden Zuschauer nämlich.
In „Jenufa“ ist übrigens ein weiterer Schlüssel für das Verständnis der beiden nachfolgenden Opern enthalten: das metallisch klingende Xylophon. Hier symbolisiert es das (schicksalhafte) Klappern des Mühlrads (und das Metall des Messers, mit dem Laca die Wangen des Mädchens verletzen wird), in „Katja Kabanowa“ den Glockenschlag, der die Liebenden aus ihrem idyllischen Stelldichein aufschreckt, in „Das schlaue Füchslein“ den Moment, in dem sich die Füchsin ihrer (durch die metallische Kette besiegelten) Gefangenschaft gewahr wird. Erst wenn er um das Xylophon als Künder eines „Schicksalsmotivs“ weiß, kann der Zuhörer dessen Bedeutung auch in den anderen beiden Werken dieser „Trilogie“ verstehen.
„Jenufa“ ist schließlich auch Geschichte einer Emanzipation (die des Individuums von den Repressalien der Gesellschaft, wie auch im besonderen die der Frauen) – mithin eine Entwicklungsgeschichte. Das Fortschreiten der Zeit wird in dieser Inszenierung durch zwei Aspekte angedeutet: durch den Wechsel der Jahreszeiten, primär ersichtlich durch den Wandel der Farben – und durch die subtile Veränderung des modischen Stils. Die Kostüme (von Dieuweke van Reij) sind begreifbar als „Zeitreise“ vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anbruch der Neuzeit. Im dritten Akt kündigen sich das Städterleben, die Urbanisierung an – und die Natur gerät ins Hintertreffen. An diesem wie beiläufig vermittelten Punkt tritt dennoch die Bedeutung der Oper für uns Heutige zutage: Längst leben wir nicht mehr „in“ den Jahreszeiten – und gerade deshalb muss sie uns der Regisseur, mit Hilfe von zwei gewichtigen Umbaupausen (andere Produktionen spielen die Oper ohne Pause oder mit nur einer) zumindest im Theater sicht- und spürbar machen.
Sämtliche anderen Themen, die in „Jenufa“ stecken, scheinen für uns Heutige dagegen „überkommen“: Die Emanzipation der Frauen ist umgesetzt (auch wenn darüber, besonders unter Frauen, noch viel gestritten wird), der Anpassungs- und Gewissensdruck der Religionen ist ausgehebelt. Beziehungskrisen, Sucht- und Gewaltthematiken oder die Probleme von Patchworkfamilien sind zwar relevant wie nie – jedoch längst nicht mehr geächtet, sondern individualisiert.
Die Staatsoper Hannover hat einen besonderen Bezug zu „Jenufa“: Hier erlebte das 1904 uraufgeführte und 1911 überarbeitete Werk im Jahr 1927 die deutsche Erstaufführung. Die Produktion 2015 ist die fünfte Neuinszenierung, die stets in der Obhut des jeweiligen Generalmusikdirektors lag. Karen Kamensek setzt diese Tradition überzeugend fort. Ihre Interpretation von „Jenufa“ zeichnet sich aus durch grandios ausgearbeitete Dramatik, die effektvoll mit der dem Werk ebenso innewohnenden und von Kamensek sorgsam gewahrten spezifischen Anmut kontrastiert. Unter ihrem präzisen Dirigat bleibt die für Janacek wichtige Balance zwischen Bühne und Orchestergraben wunderbar ausgewogen. Ausnahmslos hervorragende Solisten, allen voran Hedwig Fassbender als Küsterin und Kelly God als Jenufa, der Chor der Staatsoper Hannover und das Niedersächsische Staatsorchester bescheren mit dieser „Jenufa“ einen großartigen Opernabend.
Christa Habicht, 15.07.2015
Fotos: Jörg Landsberg