Hannover: „Werther“

Noch besser als „Mad Men“, höchst anschauens- und hörenswert

Nicht nur in Hamburg verstehen sich die Opernmacher darauf, Bühnenbilder als eine Art Endlosdurchreiche aneinandergereihter Zimmer zu machen. Auch in Hannover können sie offenbar Guckkästen bauen, die kilometerlang an den Zuschauern vorbeigeschoben werden. Zwar vollzieht sich dies an der Leine deutlich bedächtiger als an der Elbe. Was jedoch nicht etwa daran liegt, dass man weniger auf Zack ist. Ganz im Gegenteil – in Hannover setzen sie mehr als nur noch eins drauf, gegen Ende des dritten Akts.

Bis dahin hat man sich daran gewöhnt, die Handlung quasi Raum um Raum zu durchschreiten, wobei, fast wie im richtigen Leben, kein Zimmer dem anderen gleicht. Nun jedoch, derweil die Liebenden bei ihrem Wiedersehen in Alberts Stube miteinander streiten und dabei die Kulisse – ein knallrotes Sofa links, ein bis zur Decke reichender Weihnachtsbaum rechts – langsam nach links driftet, kommt jenseits der rechten Wand ein weiteres knallrotes Sofa zum Vorschein, indes die Akteure, ihren Disput fortsetzend, durch die beide Räume trennende Tür ins neue Zimmer eilen, während der nun endlich auch rechts ins Blickfeld rückende deckenhohe Tannenbaum soeben links der Sicht entschwindet.

Wenn dann, aus dem darauf folgenden Raum, am rechten Bühnenrand erneut eine knallrote Sofalehne hervorzulugen beginnt, ahnt der Zuschauer bereits, was auf ihn zukommt und kann sich eines leisen Kicherns kaum enthalten. Angesichts der enormen Absurdität der Situation fällt es kaum mehr ins Gewicht, dass Werther in dieser Szene bekanntlich von Frühlingslüften faselt (was Charlotte verzückt stumm mitspricht), während auf der Bühne der aufgetakelte Weihnachtsbaum bereits zum zweiten Mal prominent ins Auge sticht und sich ein weiterer Auftritt dieses unübersehbaren Requisits glasklar abzeichnet. Es ist kein Zufall, das selbst Massenet an dieser Stelle darauf verzichtet, das „Liebesmotiv“ zu verwenden – sie ist ganz einfach zu komisch.

Die Annahme jedoch, dieses dritte Weihnachtszimmer sei komplett identisch mit den zwei bereits entschwebten, erweist sich in einer geringfügigen, dafür umso entscheidenderen Hinsicht als irrig – was sich ausgerechnet zum Höhepunkt der Liebesszene zwischen Werther und Charlotte herausstellt. Bis dahin haben sie (übrigens auch fast alle anderen Darsteller) vom Prinzip her auf der Bühne eine Fußweglänge absolviert, die vom Kröpcke bis in die Herrenhäuser Gärten reichen dürfte, weil sie sich, quasi wie Richard Kimble auf der Flucht, stets durch die rechtsseitig belegene Tür in das jeweils neu eingeschwenkte Zimmer begaben. Nun jedoch, in einem Moment, in dem Charlotte ein Königreich zwar nicht für ein Pferd, wohl aber für eine Tür geben würde, ist an verzweifelt gesuchter Stelle keine. Sowohl für Charlotte als auch für den Kulissenwagen ist an diesem Punkt das definitive Ende der Fahnenstange erreicht. Der Rest des Akts ist brüllend komische Kür in der Kunst des Scheiterns.

Weihnachtslieder im Juli: Das dürfte bereits zu Goethes und Massenets Zeiten belustigt haben und deutet darauf, dass „Werther“ nicht ausschließlich anrührende Tragödie, sondern auch Komödie ist. Schon die ersten Bilder der Inszenierung von Bernd Mottl und seinem Team (Bühne von Friedrich Eggert, Kostüme von Alfred Mayerhofer) sind Einstimmung auf diese Lesart: die gestreifte Badeanzüge tragende Kinderrasselbande singt demonstrativ lustlos, ein knallrotes Plastikplanschbecken umringend; der im Wohnzimmer lauschende Amtmann (Michael Dries) trägt eine Weihnachtszipfelmütze; der Titelheld schleppt seine Habseligkeiten in einer weißen Plastiktüte durch sein provisorisch eingerichtetes Leben. Als er sich im dritten Bild, lässig auf einer gelbweiß gestreiften Hollywoodschaukel – die freilich in einem hermetisch abgeschlossenen, grauweiß getünchten Räumchen steht – fläzt und die Schönheit der ihn umgebenden Natur und Klänge besingt, ist ein erster Höhepunkt der Komik erreicht.

Ein anderer, grundsätzlicher Aspekt jedoch macht aus diesem „Werther“ ein regelrechtes Pointenfeuerwerk. Mottl verlegt das Paradestück der „Sturm- und Drangzeit“ nämlich in deren veritables Gegenteil: die miefige, spießige Ära der späten Fünfziger- bis frühen Sechzigerjahre. Dass der Stoff gerade in dieser Zeit hervorragend funktioniert liegt daran, dass er voller Rollenklischees ist. Diese sind uns Heutigen wiederum selbst dann, wenn wir diese Epoche nicht selbst erlebt haben, durch eine Kult-Fernsehserie überaus präsent: „Mad Men“ nimmt den damals vorherrschenden Lebensstil mit Wortwitz, vor allem jedoch Situationskomik, aufs Korn.

Auch der einheitsschwarz gekleidete Werther (Philipp Heo) könnte (damals wie heute) der Welt der „Kreativen“ entsprungen sein, wobei die nonchalante Barfüßigkeit ihn ebenso als eine Art Armani-Kerouac, als Gentleman-Beatnik klassifiziert. Albert (Christopher Tonkin) ist der typische Nice Guy Next Door ebenso wie praktisch veranlagter, abenteuerlustiger Weltenbummler. Dass er alles andere ist als eine trübe Tasse, ist übrigens auch in der ihn charakterisierenden Musik angelegt. Er ist, im Unterschied zum Titelhelden, eher ein stilles Wasser – die bekanntlich tief sind, wie diese Inszenierung noch schlüssig beweisen wird. Und der Amtmann mit seiner roten Zipfelmütze: gleichermaßen Santa Claus wie deutscher Michel. Denn dieser „Werther“ ist keinesfalls „amerikanisch“, wenn es auch auf den ersten Blick so scheint: Die Hollywoodschaukel war seinerzeit nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland ein äußerst beliebtes Terrassen- und Balkonmöbel.

Es gibt sogar Momente, die der bundesrepublikanischen Fernsehwirklichkeit der frühen Sechzigerjahre entstammen könnten: Als Charlotte im Trockenkeller die blütenweiße Wäsche von der Leine nimmt, würde man sich nicht wundern, wenn plötzlich ein virtuelles Werbespot-Double erschiene, ihr als „schlechtes Gewissen“ suggerierend, die Wäsche sei nicht weiß genug.

Schönster Verweis in jene Zeit jedoch ist die Darstellerin der Charlotte: Monika Walerowicz erinnert, durch Vortrag und Ausstrahlung, verblüffend und wunderbar an die junge Ingeborg Hallstein (die ebenfalls ein ausgeprägtes Gespür für dezent-elegante Komik hatte). Die Sophie in dieser Inszenierung wiederum scheint wie ein Rückbezug ins Heute: Mit ihrem komödiantischen Talent und ihrer Verschmitzheit kann sich Ina Yoshikawa mühelos messen an einer Anke Engelke.

Wobei – es kann gar nicht genug betont werden! – dieser „Werther“ niemals zur „Comedy“ wird. Die hervorragenden Solisten geben die von ihnen verkörperten Protagonisten nicht eine einzige Sekunde des Abends der Lächerlichkeit preis. Ihre Leidenschaft, ihre Verzweiflung, ihre Verträumtheit, ihre Liebe sind vollkommen aufrichtig und echt. Falsch – im Sinne von „nicht zu ihnen passend“ sind nur die Situationen, in denen sie sich befinden. Genau diese Deplatziertheit in der Welt hat jedoch eine umwerfende komische Wirkung.

Deren Höhepunkt ist erreicht durch die Tatsache, dass eine alles entscheidende Zimmertür fehlt. Nach diesem Raum gibt es – zaghaft angedeutet dadurch, dass Charlotte endlich an der Schnur des ständig verschlossenen Rolladens zieht – nur noch eine Möglichkeit der Weiterentwicklung: den Ausbruch. Ab diesem Moment, mit dem Ende des dritten Akts, wird „Werther“ zum Drama, vollkommen richtig und konsequent auch in dieser Inszenierung.

Mottl lässt den Schluss nicht im romantisch verschneiten Wald spielen, sondern an viel passenderem Ort: in nachtschwarzer Höllenschlucht, am Abgrund, der sich aufgetan hat – und zwar nicht etwa für den Titelhelden. Der greift in dieser Inszenierung für seinen pathetisch inszenierten Selbstmord zur modernen Duellwaffe (man achte dabei auf das Autokennzeichen), als echter Bruder im Geiste von James Dean, ein „Rebel without a cause“.

Rebellieren jedoch müsste eine ganz andere Person dieser Oper. Es ist kein Zufall, dass sich eine Aschenputtel-Assoziation aufdrängt, als Charlotte mit Werther zum Ball geht. Ihre kleinen Geschwister nehmen ihr die Schürze spielerisch wie Trickfilmspatzen ab, und sie steigt in die bereitgestellten Schuhe wie die Titelheldin in Disneys „Cinderella“ des Jahrs 1950. „Werther“ aber ist kein Märchen – sondern, wie insbesondere diese Inszenierung wunderbar veranschaulicht, die schnöde Wirklichkeit. Was bedeutet: Der Prinz kommt nicht. Beziehungsweise: Der Prinz, mit dem sie ein letztes Mal, barfüßig wie er, tanzt, ist nichts als ein kalter Frosch, ein selbstverliebter Spinner.

Schon im ersten Akt, als sie herzzerreißend weint über den Verlust der Mutter und den Schock, den deren Tod ihren Geschwistern bereitet hat, hat er nichts weiter im Kopf als – seine eigenen Gefühle (er besingt sie als die schönste Frau der Welt), ohne den geringsten Anteil zu nehmen an den ihren. Und jetzt entpuppt sich der ersehnte Befreier als weiterer Klotz am Bein – ihr auftragend, sie solle regelmäßig an seinem Grab vorbeischauen und Tränen vergießen. Der vermeintliche Ausbruch ins wahre Leben erweist sich als Absturz einer Träumerin ins Nichts. Um sich retten zu können, müsste sie so sein wie Sophie: Die pflückt im der Ehe gewidmeten zweiten Akt Werther Blumen, um sich auf dem Tapeziertisch anzüglich vor Albert zu räkeln. Sie macht das so geschickt, dass der Zuschauer kaum seinen Augen trauen mag, dass er es bei ihr mit einem hinreißend durchtriebenen Früchtchen zu tun hat, dessen Lebensstrategie am Schluss unweigerlich aufgeht.

Denn – Frauen, aufgemerkt! –: Lieb sein bringt gar nichts. Nicht die Aufopferung führt zum Erfolg, sondern eine gute Portion Berechnung und Gerissenheit. Das ist bis heute so. Nicht zufällig lautet der Titel eines bekannten Erfolgsratgebers für Frauen: „Gute Mädchen kommen in den Himmel – böse überall hin“.

Das glatte Gegenteil von Nüchternheit ist Massenets Musik. Die in ihr enthaltenen Melodien sind weniger „Leitmotive“ als „Wiedererkennungs-Merkmale“, wie sie auch im Genre der Filmmusik zum Einsatz kommen (weshalb der aus dem Cineastischen stammende Effekt der sich auf schwarzer Leinwand entwickelnden Schrift konzeptionell hervorragend passt). Dass Massenets Komposition dennoch nicht zur bloßen „Funktionsmusik“ gerät, stellt Dirigentin Anja Bihlmaier souverän sicher – am Eindrucksvollsten im ersten Teil des vierten Akts, als die schwarze Leinwand die Sicht auf die Bühne verdeckt. Den hervorragenden Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover gelingt nicht nur an dieser Stelle ein berauschend schönes Klanggemälde.

Das Ganze hat übrigens einen sehr konkreten Bezug zu Hannover – Charlottes Nachname lautet bekanntlich Kestner. Auf nach Hannover also: Es gibt in jeder Hinsicht Wunderbares zu entdecken!

Christa Habicht, 25. Mai 2015

Sämtliche Fotos: Jörg Landsberg