Chormusik und große Symphonik waren die Eckpfeiler des jüngsten Konzertes mit dem hr-Sinfonieorchester. Gastdirigent war der ehemalige Chef des Orchesters, Andrés Orozco-Estrada.
Zu Beginn war sogleich der gastierende WDR Rundfunkchor zu erleben. Im Verein mit dem Orchester wurde von Johannes Brahms dessen Komposition „Nänie“ aus den Jahren 1880/81vorgetragen. Brahms griff dabei auf das berühmte Gedicht von Friedrich Schiller zurück. Sein Werk ist dem Andenken des Malers Anselm Feuerbach gewidmet.
Der WDR Rundfunkchor zeigte sich in beeindruckender Form und ebensolcher Einstudierung durch Michael Alber. Absolut homogen im Klang, bei guter Verständlichkeit, gelang es dem Chor die für Brahms so typischen großen Bögen in beeindruckender Vokalgebung zu gestalten. Vom feinsten Pianissismo bis hin zum kultivierten Forte wurde jede Phrase mit Bedeutung hingebungsvoll ausgesungen.
Andrés Orozco-Estrada sorgte mit dem hr-Sinfonieorchester für eine mustergültige Gestaltung des Orchestersatzes. Die Balance zwischen Chor und Orchester war von beeindruckender Perfektion. Orozco-Estrada führte den Chor vorbildlich, sang permanent mit und entfaltete mit dem hr-Sinfonieorchester einen raumgreifenden Klang, der zutiefst anrührte. Und so war es nicht verwunderlich, dass das Publikum einige Zeit der Besinnung aufwendete, um sich für diesen herrlichen Vortrag zu bedanken.
Lange Zeit war der Komponist Mieczysław Weinberg so gut wie unbekannt. Dies änderte sich schlagartig, als die Bregenzer Festspiele 2010 eine viel beachtete Uraufführung der Oper „Die Passagierin“ realisierten. Weinberg, selbst jüdischer Herkunft, wurde in Warschau geboren und studierte auch am dortigen Konservatorium. Als 1939 die Deutschen Polen überfielen, floh er in die damalige Sowjetunion nach Minsk. Die zurück gelassenen Eltern und die Schwester überlebten nicht. Später, beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wurde Weinberg von der Roten Armee ins usbekische Taschkent evakuiert. Von dort aus schickte er die Partitur seiner ersten Sinfonie an Dmitrij Schostakowitsch. Dieser war so davon begeistert, dass er Weinberg nach Moskau einlud. Dort fand er seine neue Heimat.
Von nun an wurde Weinberg stets musikalisch mit Schostakowitsch assoziiert. Natürlich gibt es Parallelen. Doch im Gegensatz zu Schostakowitsch, für den Sarkasmus und Pessimismus oft zentrale Zutaten seiner Werke sind, steht bei Weinberg erkennbar der Trost in seinen Werken.
So auch in seinem 1948 entstandenen Cellokonzert op. 43. Es ist Weinbergs erstes großes Konzert. Durch die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion war an eine Uraufführung nicht zu denken. Nach dem Tod von Diktator Stalin 1953 dauerte es noch einmal vier Jahre, bis das Cellokonzert aufgeführt werden konnte. Kein Geringerer als Mstislaw Rostropowitsch spielte die Uraufführung gemeinsam mit den Moskauer Philharmonikern unter Samuil Samosud. Ein großer Erfolg. Heute zählt es neben Weinbergs Oper zu seinen meistaufgeführten Werken.
Am Cello war der junge Franzose Edgar Moreau zu Gast. Mit intensiver Hingabe und großer Sensibilität gestaltete er dieses viersätzige Werk, das so völlig anders ist als andere Cellokonzerte. Im Mittelpunkt steht hier nicht die Virtuosität. Weinberg schrieb ein Werk mit höchsten Ansprüchen an die Hingabefähigkeit des Interpreten. Dieser muss in der Lage sein, den langen kantablen Phrasen einen intensiven Seelenton zu verleihen. Moreau gelang dies auf beeindruckende Weise. Der erste Satz des zugänglichen Konzertes ist ein elegisches Lamento, welches durch fortlaufende Akkorde vom Orchester unterstützt wird. Moreau ließ sein Cello in warmer Tongebung ertönen und stufte behutsam seine Dynamik ab. Die große Kadenz, die als Übergang zum beschließenden vierten Satz dient, musizierte Moreau als persönliche Zwiesprache. Eine Kulmination der Kantabilität. Auch in den anderen Sätzen konnte Moreau mit vielen Nuancen überzeugen, so z.B. in den jüdischen Folklorismen des zweiten Satzes. Auch hier war Andrés Orozco-Estrada ein hoch aufmerksamer Partner, der mit dem hellwachen hr-Sinfonieorchester der Komposition von Weinberg viele Facetten zu entlocken wusste. Das macht Lust auf mehr! Das Publikum war hoch erfreut über diese Rarität und wurde von Moreau mit einer Zugabe bedankt.
Es war der 26. November 1896 in Frankfurt, da erklang der berühmteste Sonnenaufgang der Musikgeschichte zum ersten Mal: „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss. Der Komponist formulierte ein Programm für sein Orchesterwerk, gegliedert in acht Teile. Es folgt ein Wechselspiel zwischen Menschen und Natur. Andrés Orozco-Estrada hatte sich für einen ganz eigenen Zugang entschieden und gestaltete die Tondichtung als hörbaren Kampf der Elemente. Groß waren seine Kontraste, vor allem in der Phrasierung und Artikulation der Themen, auch manch schroffe Tongebung war eine willkommene Zutat. Die Strukturen wurden gut herausgearbeitet. Dies alles geschah bei vollem Mut zum Risiko, das war kein Konsum-Vortrag, der nur auf Gefälligkeit abzielte. Zum Glück nicht. Diese Interpretation war hitzig, packend und niemals langweilig. Manches Tempo geriet dabei ein wenig forciert. Insgesamt waren die Ruhepole nicht klar genug ausformuliert. Auch in den dynamischen Zuspitzungen hätte es durchaus noch klangsatter stürmen können. In der Charakterisierung der einzelnen Solo-Beiträge gab es dann andererseits zu deutliche Zurückhaltung, z.B. im „Tanzlied“, welches vom Konzertmeister lediglich korrekt und tonschön vorgetragen wurde. Der musikalische Subtext, der hier deutlich anklopft, blieb unangetastet.
Das hr-Sinfonieorchester hatte hörbare Freude daran, derart losgelassen mit seinem ehemaligen Chef zu musizieren. Die Streicher verwöhnten in großer Besetzung mit üppigem Klang. Holz- und Blechbläser waren intensiv gefordert und gefielen mit ihren überzeugenden Beiträgen. Lars Rapp an der Pauke war ganz in seinem Element und faszinierte durch seinen herrlich ausdifferenzierten Vortrag. Seine Offensive wären einmal mehr seinen Kollegen vom übrigen Schlagzeug anzuempfehlen. Im „Sonnenaufgang“ waren die ersten drei Beckenschläge wieder einmal viel zu zaghaft, kaum hörbar. Dann immerhin bei den Fortestellen gab es etwas mehr Kraft, aber für die Anforderungen eines glanzvollen Höhepunktes war das insgesamt viel zu schwach. Es ist ein Jammer! Aber auch Glockenspiel und die so wichtige Mitternachtsglocke waren viel zu zurückhaltend.
Nach dem „Zarathustra“ ging es nahtlos weiter. Den musikalischen Abschluss gestaltete noch einmal maßgeblich der formidable WDR Rundfunkchor, wieder mit Johannes Brahms. Ehe er sich als freischaffender Komponist in Wien niederließ, war Brahms in verschiedenen Städten als Chordirigent aktiv. Für ihn war damit der Grundstein gelegt, sein untrügliches Gespür für die Chormusik zu entwickeln.
Als 1871 das Karlsruher Publikum Zeuge der Uraufführung seiner Komposition „Schicksalslied“ wurde, zeigte es sich tief bewegt und beeindruckt. Brahms nahm als Textvorlage ein Gedicht von Friedrich Hölderlin. Der Dichter beschreibt den Unterschied zwischen himmlischem und irdischem Dasein. Brahms entwarf für seine Komposition eine sehnsuchtsvolle Atmosphäre. Seine Harmonik geriet dabei bestechend ausdrucksvoll. Licht und Dunkel begegnen, umlagern sich. Die Lebensachterbahn des Menschen malt Brahms mit wild bewegten Streicherfiguren. Und im Finale zeigt sich Brahms, der Lebensfreundliche, von seiner zuversichtlichen Seite. Sein Werk endet milde und trostspendend, im Gegensatz zu Hölderlins düsterem Finalverlauf. Der direkte Übergang von Strauss zu Brahms geriet verblüffend gut. Denn wie bereits bei der zu Beginn vorgetragenen „Nänie“ konnten sich die zahlreichen Zuhörer an einem fabelhaften Vortrag durch Chor und Orchester erfreuen.
Lange Begeisterung für einen abwechslungsreichen und spannenden Konzertabend.
Dirk Schauß, 10. Dezember 2022
Besuchtes Konzert in der Alten Oper Frankfurt
am 9. Dezember 2022
Johannes Brahms „Nänie op. 82“
Mieczyslaw Weinberg „Cellokonzert op. 43“
Richard Strauss „Also sprach Zarathustra op. 30„
Johannes Brahms „Schicksalslied op. 54“
Edgar Moreau, Violoncello
WDR Rundfunkchor
hr-Sinfonieorchester
Dirigat: Andrés Orozco-Estrada