Alte Oper Frankfurt, 25. Oktober 2019
Igor Levit (Klavier)
James MacMillan
Larghetto for Orchestra
Sergej Rachmaninow
Variationen über ein Thema von Paganini op. 43
Dmitri Schostakowitsch
Symphonie No. 5 d-moll op. 47
Selten ist es zu erleben, dass ein Orchester der Spitzenklasse sowohl vor dem Konzert als auch in der Konzertpause derart intensiv übt. Dieser eigene Anspruch an Qualität und Hingabe sollte das Konzert des Pittsburgh Symphony Orchestras nachhaltig prägen. Fast ganz im Zeichen der russischen Musik stand das Gastspiel des renommierten Orchesters unter der Leitung seines Chefdirigenten Manfred Honeck. Inzwischen ist es bereits die 25. Europa-Tournee des Klangkörpers. Große Dirigenten wie William Steinberg, Lorin Maazel, André Previn und Mariss Jansons prägten das Orchester nachhaltig. Und auch der amtierende Chefdirigent Manfred Honeck hat sich zu einem großen Dirigenten entwickelt, der immer zwischen den Noten liest und mit seiner Empathie der Musik besondere Ausdruckstiefe verleiht.
Zu Beginn präsentierten die Künstler, das im Jahr 2017 von ihnen uraufgeführte „Larghetto for Orchestra“ des schottischen Komponisten James MacMillan. Seine tiefe Beschäftigung mit sakraler Musik und diverser Chorliteratur zeigt sich auch in dieser Komposition. Eine chorale Klangreise, die vor allem Streicher und Bläser intensiv beschäftigen. MacMillan schuf frappierende Klangeffekte. So musizierten die Blechbläser in unterschiedlichen Distanzen im Konzertsaal, was zu eindrücklichen Klangschichtungen führte. Sehr berührend begann diese Komposition mit einer kantablen Melodie der Celli-Gruppe. Große Momente dann auch in den Bläser-Chorälen. Diese tonale Musik entfaltete eine deutliche spirituelle Kraft. Manfred Honeck schuf hier gleich zu Beginn eine besondere Atmosphäre für einen Konzertabend der Spitzenklasse. Aufmerksam ließ er das Orchester aufeinander reagieren und sorgte dazu für eine soghafte Entwicklung dieser berührenden Musik.
Am 07. September 1934 dirigierte Leopold Stokowski die Ur-Aufführung der Paganini-Variationen von Sergej Rachmaninov. 24 Variationen, die der berühmte Virtuose Niccolo Paganini in seinen 24 „Capricci für Solovioline“ selbst verfasst hatte. Das bekannte Hauptmotiv wurde auch von Komponisten wie Liszt oder Brahms verwendet. Noch dominanter das nahezu allgegenwärtige finstere Dies-Irae Thema, fester Bestandteil der lateinischen Totenmesse und in allen wichtigen Orchesterwerken Rachmaninows enthalten. Die Musikwissenschaft ist sich uneinig, ob dieser Komposition nicht doch ein Programm zugrunde gelegt wurde. In diesem soll der große Paganini seine Seele an den Teufel verkauft haben, um noch virtuoser zu spielen und die Liebe einer Frau zu erringen. Daher wundert es nicht, dass dieses Werk auch als Ballettstück großen Anklang fand.
Solist des Konzertabends in der Alten Oper Frankfurt war Igor Levit. Gemeinsam mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra unter Leitung seines charismatischen Chefdirigenten Manfred Honeck, gab es ein virtuoses Feuerwerk der Spitzenklasse zu bestaunen. Mit großer Klarheit, feiner und doch weit gefasster dynamischen Bandbreite durchmaß Levit die horrenden Anforderungen seines Parts. Dabei blieb er keiner Variation etwas schuldig. Kraftvolle Akkorde standen im größten Kontrast zu kantablen Phrasierungen, vor allem in den sehr gefühlsbetonten Abschnitten der Variationen. Erstaunlich, wie bezwingend Levit immer der Natürlichkeit, dem schlichten Anschlag seiner Tasten den Vortritt ließ. So kamen vor allem die melodieintensiven Abschnitte zur besonderen Geltung. Der sehr aufmerksam begleitende Honeck achtete permanent darauf, dass Orchester und Solist sich einen fruchtreichen Dialog lieferten. Dabei verwöhnte das groß aufspielende Orchester mit satter, nie lärmender Klangkultur. Herausragende Instrumentalsoli, wie etwa durch die Solo-Violine, waren begeisternd zu vernehmen, wie insgesamt eine Klangsprache, die außerordentlich bezwingend in ihrem Ausdruckswillen geriet. Levit und Honeck wirkten dabei sehr harmonisch im gemeinsamen Umgang.
Gewaltig und völlig zurecht war die Begeisterung im Publikum über diese große Flut musikalischer Ausdruckstiefe. Igor Levit bedankte sich mit einer originellen Zugabe. Von Bill Evany gab es eine sehr intime Version des bekannten Songs „Oh Danny Boy“. Das Publikum zeigte sich hingerissen.
Im zweiten Teil demonstrierten das Pittsburgh Symphony Orchestra und Manfred Honeck ihre außerordentliche Kunstfertigkeit. Honeck hat von jeher eine besondere Affinität zur russischen Musik. So entschied er sich für die populärste Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, seine Fünfte, uraufgeführt im Jahr 1937. Mit dieser Symphonie gelang es dem Komponisten sich zu rehabilitieren, nachdem er kurz zuvor bei Stalin in Ungnade fiel und damit sein Leben in große Gefahr brachte. „Chaos statt Musik“ titelte Stalin seinen Ärger über die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, die der Komponist wenige Jahre zuvor geschrieben hatte. Schostakowitsch musste sich rehabilitieren. Die eingängige Symphonie wurde von Stalin und seinen Parteigenossen begeistert aufgenommen und für deren propagandistische Zwecke missbraucht. Lange wurde das Werk unter dem Titel „Das Werden der Persönlichkeit“ aufgeführt. Der Jubel am Ende der Symphonie ist dabei jedoch alles andere als ein Triumph. Geradezu brutal wird hier ein plakativer Jubel mit Schlägen provoziert. Viel Sarkasmus, aber ebenso auch tiefer seelischer Schmerz prägen diese Symphonie.
Sehr ruppig begann der erste Satz in den Streichern, die dann seidig im klagenden Hauptthema ertönten. Honeck wählte hier ein ruhiges Zeitmaß, so dass die Streicher wunderbar phrasieren konnten. Mit dem drastisch einsetzenden Klavier begann mit dem anschließenden Marschmotiv eine Tour de force, die vor allem dem vorzüglichen Blech und dem akzentuiert agierenden Schlagzeug viel Gelegenheit zur lautstarken Entfaltung bot. Honeck scheute dabei durch zugespitzte Accelerandi keinerlei Risiko. Faszinierend, wie groß das dynamische Potential bei den Blechbläsern geriet, so dass sich der Höhepunkt tief in die Magengrube der Zuhörer hineingedrängt haben dürfte. Untrüglich Honecks klangliche Raffinesse, die diesen Satz mit großer Ruhe ausklingen ließ. Zu erleben waren herrliche Soli von Horn, Flöte und Solovioline. Fabelhaft der schlank, perfekt intonierte Tonfall des Solo-Hornisten im elegischen Dialog mit Flöte und Violine. Herausragend der schmerzvoll-süße Tonfall an der Solo-Violine des famosen Konzertmeisters.
Im zweiten Satz agierte Honeck als Interpret einer bizarren Groteske. Stampfend und derb begannen die Streicher. Da brummelte knarzend das Kontrafagott wie ein Parteibonze, während die Solovioline dazu spitz, wie ein kleines Mädchen ein Kinderlied intoniert, kommentierte. Gerade hier fiel einmal mehr der z.T. sehr harte Bogenstrich der Streichergruppe auf, die sehr wuchtig mit außergewöhnlich viel Gewicht phrasierten. Dazu die bewusst lärmenden Hörner und schneidigen Akzente im Schlagzeug.
Tief in die Seele verankerte sich das intensiv ausmusizierte Adagio, in welchem die Streicher in schier endlos wachsender Intensität tief berührten. Honeck nahm sich sehr viel Zeit und war dann ganz bei sich, diesen so innigen Satz gewaltig dynamisch zu steigern. Honeck sieht diesen Satz als eine Art Requiem an Schostakowitschs Zeitgenossen, deren Leben in Sibirien endete, denen eine Chance auf Rehabilitierung versagt blieb. Wie aus einer anderen Welt ließ er sodann diesen Seelengesang ausklingen. Unfassbar dabei, wie weit das Orchester sich im Pianissimo zurücknehmen konnte.
Brachial, dann der fast nahtlose Übergang in den lärmenden Beginn des finalen Satzes. Welch ein Kontrast mit furios donnernder Pauke und spektakulär jagenden Bläsern! Auch hier schärfte Honeck das Klangbild und befeuerte seine Musiker zu zugespitzten Tempi. Und tatsächlich, auch einem Spitzenorchester geht dann auch einmal im Horn oder der Trompete ein Ton daneben. Aber das machte das intensive Musizieren, der schiere Ausdruckswille absolut vergessen. Und endlich, endlich nahm sich ein Dirigent für den Schluss die notwendige Ruhe, diesen in einem betont langsamen Tempo zu halten. Die Wirkung war enorm, insbesondere auch weil Honeck die Dissonanzen herausmeiselte. Und doch dominierte bei ihm der Triumph. Das gebeutelte Ich der Komponistenseele ragte wie ein Fels aus der klanglichen Brandung heraus.
Manfred Honeck wirkte an diesem Abend gebend und fordernd, hellwach und dabei immer intensiv fühlend. Berührend, wie groß und spürbar seine Identifikation mit der zu interpretierenden Musik war. So geriet gerade diese Symphonie in der meisterhaften Darbietung zum unvergesslich tönenden Seelengebilde!
Das Pittsburgh Symphony Orchestra kombinierte technische Perfektion mit warmer Klangkultur. Großartige Soli-Beiträge auch hier und ein intensives Erleben der Musik verliehen dem Klang des Orchesters seine Besonderheit. Honeck zeigte wie tief seine Beziehung zur russischen Musik ist. So innig, so voller Seele, der Intention des Komponisten nachspürend und doch dabei der demütige Diener großer Musik zu sein, das ist heute sehr selten geworden. Eine absolute Sternstunde!
Die intensive Begeisterung wurde mit zwei kontrastreichen Zugaben belohnt. Zunächst gab es von Eric Satie die „Gymnopedie No. 1“ in der Instrumentierung von Claude Debussy. Fein getupfte instrumentale Farbtupfer, die das Orchester von einer ganz anderen Seite zeigte. Und dann eine äußerst spektakuläre, zugespitzt dramatische Version von „Tybalts Tod“ aus „Romeo und Julia“ von Sergej Prokofjew. In wahnwitzigen Tempi sausten die Streicher durch ihre Tonskalen, gejagt von den drastischen Bläsereinwürfen und gesteigert zum finalen Höhepunkt in schmerzvollen Dissonanzen.
Große Begeisterung in der ausverkauften Alten Oper.
© PRO ARTE / Sabine Siemon
Dirk Schauß, 26. Oktober 2019