Dessau: „Manon Lescaut“

Premiere 5.4.2019
besuchte Vorstellung: 19.4.2019

Lieber Opernfreund-Freund,

Giacomo Puccinis Vertonung der Geschichte von Manon Lescaut, die Abbé Prévost 1731 aufgeschrieben hatte, wird hierzulande im Vergleich zu seiner Tosca oder der Bohéme vergleichsweise selten gespielt. In Dessau musste man mehr als 35 Jahre auf eine Aufführung warten, 1982, also noch zu DDR-Zeiten, stand Puccinis dritte Oper hier zuletzt auf dem Spielplan. Nun hat das Warten ein Ende – und für die umwerfende Interpretation der Titelheldin durch Kammersängerin Iordanka Derilova allein hat sich das Warten schon gelohnt.

Die Geschichte der Manon erinnert an ein It-Girl heutiger Tage, ein scheinbar oberflächliches, unstetes Mädchen, das sich von Materiellem begeistern lässt, unabhängig von dessen mangelnder Substanz, jemanden, der offensichtlich nicht zu tieferem zwischenmenschlichen Gefühl fähig ist. Den Studenten Renato Des Grieux, der sie selbstlos und abgöttisch liebt, bringt sie immer wieder in Schwierigkeiten, sie lässt ihn fallen, als sie den Versuchungen des Geldes nicht mehr widerstehen kann, auch wenn sie sich dazu ihre Liebe zu ihm gewissermaßen abkaufen lässt. Selbst in der Verbannung legt sie das flatterhafte Wesen nicht ab, muss mit Des Grieux in die Wüste fliehen und verdurstet dort. Kann man da Mitgefühl empfinden oder ist ein „Selbst schuld!“ nicht die naheliegendste Reaktion? Ja, sagt Katharina Thoma und zeigt Liebe und Glück in ihrer Regiearbeit als Ware – und zwar von Beginn an, als die noch unschuldige Manon auf einem Warenumschlagplatz (statt in der historischen Vorlage in einer Postkutschenstation) auf den mittellosen Studenten Renato trifft. Hier bekommt man alles, was das Herz begehrt, käufliche Liebe, Waren aus aller Welt, Reichtum durch Kartenspiel und vielleicht auch ein bisschen Glück. Zwischen Übersehcontainern begegnen sich die beiden (die unglaublich wandelbare Bühne hat Sibylle Pfeiffer gestaltet) und Manon scheint Des Grieux nur zu folgen, weil er es eben gerade anbietet, erliegt so zum ersten Mal einer Versuchung, wie sie es im Laufe der Handlung noch oft tun wird.

Im zweiten Bild klappt einer der Container auf und beinhaltet das luxuriöse, golden schimmernde Apartment, in dem Manon nach der Trennung von Des Grieux beim Geronte de Ravoir lebt. Mit Teleshopping-Kanal im Hintergrund und Tanzstunde an der Pole-Stange holt Katharina Thoma die Handlung schlüssig ins Hier und Jetzt, auch wenn die prächtigen Kostüme im 2. Akt, die Irina Bartels entworfen hat, an die Entstehungszeit des Werkes erinnern. Erst im letzten Bild verlässt die Regisseurin und ihre Bühnenbildnerin ihr sicheres Händchen, da beherrschen ein paar Containerreste und spärlicher Zivilisationsmüll die ansonsten karge Bühne. Dass Manon zeitweise mit dem Koffer hantiert, den sie bei ihrem Auftritt zu Beginn des Abends bei sich hatte, ist zwar noch eine ebenso gute Idee, wie die leeren PET-Flaschen, die Manon nicht vor dem Verdursten retten können, auch ist der Abstieg der Titelfigur durchaus angedeutet, mir aber ein bisschen zu wenig – oder zu viel. Dann wäre vielleicht eine komplett leere Bühne schlüssiger gewesen.

Und hier tritt die außerordentliche Kraft, mit der Iordanka Derilova der Manon Leben einhaucht, besonders zu Tage. Ihre Interpretation der Schlussarie Sola, perduta, abbandonata alleine hat den Weg nach Dessau schon lohnend gemacht, denn die aus Bulgarien stammende Künstlerin macht die szenischen Unzulänglichkeiten vergessen. Im ersten Akt fast noch ein wenig zu präsent als Unschuld vom Lande, trumpft sie ab dem zweiten Bild als Femme fatal voll auf, spielt die Trümpfe ihres ausdrucksstarken, farbenreichen Soprans aus, begeistert mit mühelosem Registerwechsel und wahnsinnig viel Seele.

Ihr zur Seite steht Ray M. Wade, Jr. als Renato Des Grieux seinen Mann. Voller Glanz und mit vortrefflicher Höhensicherheit gestaltet der US-Amerikaner diese Figur, die um ihre Liebe, ihr Glück und zuletzt um das Leben seiner Geliebten kämpft. Dagegen hinterlässt der Lescaut von Kostadin Argirov nicht wirklich Eindruck, ich habe den Klang seiner Stimme in der Tat schon vergessen, als ich das Opernhaus verlasse – im Gegensatz zum einen oder anderen unsauberen Einsatz. Ensemblemitglied Don Lee als Geronte bietet dagegen keinen Grund zur Klage, trumpft mit durchschlagkräftigem Bass und dazu komödiantischem Talent auf. David Amelns Edmondo ist ebenso klangschön wie Anne Weinkaufs Interpretation der Madrigalsängerin. Bestens disponiert und sauber aufeinander abgestimmt präsentiert sich der Opernchor. Im Graben entfacht Markus L. Frank italienisches Feuer und entfaltet die puccinischen Wogen zu vollem Glanz, nimmt sich aber beispielsweise beim leidenschaftlich interpretierten Intermezzo ebenso gekonnt zurück. Ein fast runder Abend ist das also in Dessau – und für das, was eher wackelt als passt, entschädigt die leidenschaftliche Interpretation von Iordanka Derilova allemal.

Ihr Jochen Rüth 20.04.2019

Die Fotos stammen von Claudia Heysel