Verona: „La Traviata“

Vorstellung am 30.07.2022

ÜBERWÄLTIGEND

Wer hätte das erwarten können, dass ausgerechnet ein so intimes Werk wie LA TRAVIATA, welches außer dem Brindisi im ersten und dem Ballett mit großem Chor im dritten Bild wenig "arenataugliches" Material enthält, zu einem dermaßen überwältigenden Triumph wird. Regie und Bühnenbild stammen noch vom legendären, stets einer historisierenden Ästhetik sich unterwerfenden Regisseur Franco Zeffirelli. Dass ein Bühnenbild (und dessen Umbau auf offener Bühne) zu spontanen Beifallsstürmen führen, erlebt man in Opernhäusern nördlich der Alpen nur noch äußerst selten. Zeffirelli bleibt mit seiner Inszenierung exakt Mitte des 19. Jahrhunderts, es sieht alles genau so aus, wie man es erwartet. Prachtvolle, historische Kostüme (Maurizio Millenotti) versetzen uns in die mondäne Welt der Pariser Salons, als Rahmen dient das Bühnenportal mit Vorhang und Seitenlogen des Palais Garnier in Paris. Doch keine Bange, es wird kein Theater auf dem Theater – intellektuelle Überstülpungen und aktualisierte Verfremdungen waren nie Zeffirellis Ding. Wohl aber vermochte er die Weitläufigkeit der Bühne in der Arena gekonnt und sinnig auszunutzen, das ist alles punktgenau inszeniert, sängerfreundlich durch die nach hinten geschlossenen Räume noch dazu – pures Opernglück. Allein schon die Tatsache, dass es im Publikum von Bild zu Bild ruhiger wurde, spricht für die Aufführung.

DIE "EINSPRINGERIN"

Über das vorgesehene und dann relativ kurzfristig von der Sängerin selbst gecancelte Arena Debüt von Angel Blue will ich hier keine Worte mehr verlieren, man kann alles dazu in meiner AIDA-Kritik nachlesen. Die Fondazione Arena di Verona jedenfalls hatte Frau Blue bis zwei Tage vor der Vorstellung alle Türen offen gelassen, um ihren Entscheid zu überdenken. Davon machte sie keinen Gebrauch. Gestern Abend nun stand Nina Minasyan auf der Bühne und ersang sich einen umjubelten Triumph. Die junge armenische Sopranistin verfügt über eine samtweich und blitzsauber intonierende, warme Stimme. Ihr "Dite alla giovine" im zweiten und das "Addio del passato" im letzten Bild gelangen mit zu Tränen rührender, überirdischer Schönheit. Für das "Amami, Alfredo" und die grosse Szene am Ende des ersten Aktes "È strano … Sempre libera" verfügte sie über den erforderlichen großen Atem und fein ziselierte, leichtfüssige Koloraturen, ohne je unschön forcieren zu müssen, alles auf tief empfundenen Ausdruck und nicht auf oberflächliche Bravour hin ausgerichtet. Den Übergang vom Sprechgesang ins Delirium des Todesgesangs der Schlussszene habe ich noch nie so kunstfertig erlebt! Darf man heutzutage noch erwähnen, dass Nina Minasyan auch eine außergewöhnliche Schönheit ist?

TENOR UND BARITON

Vittorio Grigolo ist natürlich meinen Zürcher Opernfreunden bestens bekannt, wurde er doch seinerzeit von Pereira und Nello Santi als lautstarker Latin Lover gerne und oft besetzt. Pereira nahm ihn dann später auch an der Scala oft unter Vertrag. In Zürich war er nicht mehr zu Gast. Es wurden dann auch Gerüchte so wegen #metoo laut, die sind unterdessen verstummt. Grigolo sang gestern Abend einen erstaunlich zurückhaltenden Alfredo, zeigte gekonnt die nervöse Unbeholfenheit des Jungen vom Land in der mondänen Großstadt. Seine große Arie mit Kabaletta im zweiten Akt sang er sehr schön und verzichtete gar auf das (nicht notierte, aber erwartete) Acuto. Erst beim Schlussapplaus war Grigolo dann wieder ganz der alte: Exaltiert, Küsschen in die Menge, Anfeuern des Applauses. So ist er halt. Doch schön singen kann er immer noch.

Grandios gestaltete Ludovic Tézier die Rolle des Vaters Germont, machte die Wandlung vom kaltherzigen Patriarchen zum empathisch fühlenden, tiefe Hochachtung vor der menschlichen Grösse Violettas empfundenen Mannes plausibel. Verdientermaßen erhielt Ludovic Tézier für diese herausragende Interpretation besonders warmherzigen Applaus. Lilly Jørstad sang eine ausgezeichnete Flora und Yao Bohui war die besorgte Annina. Besonderen Applaus erhielt das Ballett der Fondazione Arena di Verona für das traditionell choreographierte Matador-Ballett im dritten Bild, inklusive Glitter-Konfettiregen. Etwas Spektakel erträgt selbst eine Open Air TRAVIATA unbeschadet.

DIRIGENT UND ORCHESTER

Wie bereits in der AIDA stand der routinierte Marco Armiliato am Pult des an diesem Abend erstaunlich gut disponierten Orchesters und ließ viele Feinheiten der Partitur aufblühen. Besonders das subtile, intensive Spiel der Soloklarinette verdient eine Erwähnung.

Ein rundum beglückender Opernabend in der um Mitternacht immer noch heißen Luft Italiens hinterließ tiefen, bewegenden Eindruck.

Kaspar Sannemann, 5.8.22

https://www.oper-aktuell.info/kritiken/artikel/verona-arena-la-traviata-30072022.html

Ennevi © Arena di Verona