Heidelberg: „Rigoletto“

Besuchte Aufführung: 30.9.2018, (Premiere: 22.9.2018)

Objektifizierung der Frau im Schlachthof

Wieder einmal hat das Theater Heidelberg seinem Publikum einen unvergesslichen Opernabend bereitet. Was sich heuer auf der Bühne abspielte, war in höchstem Maße atemberaubend. Mit dem „Rigoletto“ ist dem bewährten Regieduo Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, das auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeigte, ein geradezu preisverdächtiges Meisterstück gelungen. Aus dieser Inszenierung geht man anders heraus als aus sonstigen Vorstellungen. Man fühlt sich angesichts der optischen Eindrücke beklommen und erschüttert. Dem neugierigen Intellekt wurde indes vollauf Genüge getan. Die beiden ungarischen Regisseurinnen haben sich über das Stück treffliche Gedanken gemacht und diese mit Hilfe einer ausgefeilten, stringenten Personenregie hervorragend umgesetzt. Das war ein „Rigoletto“ mit einer enormen Spannkraft, die den Besucher ganz in ihren Bann zog. Bis tief ins Innere hinein fühlte man sich von dem Gesehenen getroffen. Dabei haben die Damen Szemerédy und Parditka genau auf die Musik gehört. Man kann zu ihrer Arbeit stehen wie man will, der Eindruck war jedenfalls gewaltig. Hier haben wir es wahrlich mit erstklassigem Musiktheater zu tun!

James Homann (Rigoletto), Carly Owen (Gilda)

Die Regisseurinnen haben jeglicher Konvention eine klare Absage erteilt und mit einer Konzeption aufgewartet, die genauso neu wie auch packend war. Von herrschaftlichem Glanz ist in dieser Produktion nichts zu spüren. Wenn sich der Vorhang öffnet, fällt der Blick auf einen dreckigen, heruntergekommenen Schlachthof, in dem der sehr zynisch und unersättlich gezeichnete Duca und sein Hofstaat ihrem schmutzigen Treiben nachgehen. Nachhaltig werden hier die schlimmsten menschlichen Triebe ausgelebt, am laufenden Band vergeht man sich an jungen Damen. Im Keller werden Mädchen gefangen gehalten. Am Tropf hängend und mit Drogen vollgepumpt werden sie gefügig gemacht. Es gibt kein Entkommen für sie. Frauen sind dabei willige Erfüllungsgehilfen der Männer.

Gilda ist die Nummer sechs, wie eine Tätowierung auf ihrer Brust zeigt. Der von Szemerédy und Parditka zum in einer eleganten Küche seinem Handwerk nachgehenden umgedeutete Chefkoch Rigoletto versteckt sie hier nicht in einem abgelegenen Haus, sondern behält sie immer in seiner unmittelbaren Nähe. Aber auch mit diesem Vorgehen kann er die Kontrolle über sie nicht ständig aufrechterhalten. Spätestens bei Monterones Fluch wird ihm klar, dass sein Konzept nicht aufgeht. Monterone gehört der anrüchigen Gesellschaft zuerst noch an. Erst als ihm seine tote Tochter splitternackt und von Früchten umgeben auf einer großen Speisetafel vorgeführt wird, besinnt er sich eines Besseren und distanziert sich von den anderen. Die Idee des Regie-Duos, aus Monterone einen Mitläufer zu machen, der sich so lange an den Verbrechen der Gemeinschaft beteiligt, bis er selbst betroffen ist, war ungemein interessant.

Carly Owen (Gilda), Graf von Ceprano, Marullo, Borsa, Chor

Dies gilt auch für Rigoletto, der vergeblich versucht, zu Gilda eine Beziehung aufzubauen. Sie spielt in dieser Interpretation die zentrale Rolle. Ausgangspunkt für die Regisseurinnen ist die Frage, was das Mädchen dazu bewegt, sich am Schluss für den Duca zu opfern. Deutlich wird, dass sie, hin und her gerissen zwischen Liebe und Pflicht, letztendlich gar keine Wahl mehr hat. Hier geht es in erster Linie um Selbstdefinition und Selbstverwirklichung Gildas. Erst im Tod findet sie zu sich selbst. Nach dem Verständnis von Szemerédy und Parditka erlebt das Mädchen seinen Körper nicht als ihren eigenen. Sie sieht sich nur durch die Augen der sie umgebenden Männer und nimmt sich nur noch als Gegenstand war (vgl. Programmheft). Sie kann ihre Subjektivität nicht mehr ausleben und wird zum reinen Objekt degradiert. Ihr bleibt nur, dem Duca freiwillig ihren Körper zu opfern.

Hier spielen die Thesen der Psychologin Carol J. Adams eine große Rolle. Ihr Buch „Zum Verzehr bestimmt“ scheint für die beiden Regisseurinnen bei der Erarbeitung der Konzeption ganz zentral gewesen zu sein. Die von Frau Adams entwickelte Objektifizierung von Tieren, d.h. die Enteignung ihrer Subjektivität, wird analog auf Frauen angewendet. Die von der Autorin aufgedeckte Parallelität von Tieren und der Unterdrückung von Frauen wird nur zu deutlich. Es ist schon schockierend, was sich hier abspielt. Die von Carol J. Adams geforderte feministische Ethik wird auch von dem Regie-Duo ganz groß geschrieben. Laut dringt ihr Ruf nach der Befreiung der gefangenen Mädchen in den Raum. Wo aber die Macht in der Hand einer Person oder einen kleinen Gruppe zentriert ist, kann diesem Unterfangen kein Erfolg beschieden sein (vgl. Programmheft). Nachhaltig halten Szemerédy und Parditka dem Auditorium den Spiegel vor. Derartige Verhältnisse kommen in unserer Gegenwart immer wieder vor. Das geschieht leider in jeder Gesellschaft. Hier gilt es Abhilfe zu schaffen.

James Homann (Rigoletto), Graf von Ceprano, Borsa, Marullo

Dieser konzeptionelle Ansatzpunkt war sehr überzeugend. Aber auch sonst sparte das Regie-Duo nicht mit gelungenen Einfällen. So war es eine sehr gute Idee, Gilda und den Duca zu Beginn des zweiten Aktes noch einmal zusammentreffen zu lassen. Auf krasse Art und Weise wird dem Zuschauer vorgeführt, wie es zu der Vergewaltigung des Mädchens durch den Herrscher kommt. Deutlich wird auch, dass sie nur ein bloßes Amusement für ihn darstellt. Wahre Liebe ist hier nicht im Spiel. Eine echte Beziehung kommt zwischen den beiden genauso wenig zustande wie zwischen Rigoletto und Gilda. Dieser schlägt sie sogar einmal. Männerkleidung bekommt die Tochter vom Vater bereits am Ende des zweiten Aktes. Einen Leichensack gibt es in dieser Inszenierung nicht. Gilda, die nicht durch Sparafuciles Messer ihr Leben aushaucht, sondern sich freiwillig die Pulsadern aufschlitzt, stirbt auf derselben Speisetafel, auf der auch Monterones Tochter lag und wird gleich dieser von den Höflingen ihrem verzweifelten Vater präsentiert. Jetzt ist Rigoletto auch äußerlich genau in derselben Situation wie der alte Graf – ein starkes Bild!

Wilfried Staber (Sparafucile), Carly Owen (Gilda), Maddalena

Auch gesanglich bewegte sich der Abend auf hohem Niveau. James Homann ließ sich wegen einer starken Erkältung zu Beginn entschuldigen, kam aber als Rigoletto durchaus beachtlich über die Runden. Zunehmend gelang es ihm, seinem Part ein immer interessanteres Profil zu geben und mit schönen Piani und Zwischentönen auszustatten. Eine Meisterleistung erbrachte das neue Ensemblemitglied Carly Owen in der Rolle der Gilda. Hier haben wir es mit einem wunderbaren Sopran bester italienischer Schulung zu tun, dem eine Vielfalt von Farben und großes Differenzierungsvermögen zur Verfügung stehen. Die perlenden Koloraturen kamen perfekt und auch mit der sicheren Höhe vermochte sie zu punkten. Das sehr gefühlvoll und mit großer Innigkeit gesungene „Caro nome“ war der Höhepunkt der Aufführung. Das war eine ganz große Leistung! Auch darstellerisch konnte sie überzeugen. Nenad Cica, ebenfalls neu im Heidelberger Sängerstamm, gab dem Duca mit leichtem, geschmeidigem und gut sitzendem Tenor sowie eindrucksvollem Spiel eine ganz persönliche Note. Mit profundem Bass-Material stattete Wilfried Staber den Sparafucile aus. Einen tiefgründigen, imposanten Mezzosopran brachte Ewelina Rakoca-Larcher für die Maddalena mit. Ansprechend gab Ks. Carolyn Frank die Giovanna. Ein solider Marullo war Philipp Stelz. Gut im Körper sang Sang Hoon Lee den Borsa. Beeindruckende stimmliche Konturen verlieh der Bass-Bariton Daniel Choi dem Grafen von Monterone. Solide entledigte sich die Gräfin von Ceprano Irida Herri s ihrer kleinen Aufgabe. Als Graf von Ceprano blieb Woo Kyung Shin eher unauffällig. Xiangnan Yao (Gerichtsdiener) und Ekaterina Streckert (Page) rundeten das homogene Ensemble ab. Nichts auszusetzen gab es an dem von Ines Kaun einstudierten Herrenchor und Extrachor des Theaters und Orchesters Heidelberg.

Carly Owen (Gilda), James Homann (Rigoletto), Gräfin von Ceprano, Statisterie

Eine gute Leistung ist GMD Elias Grandy am Pult zu bescheinigen. Zusammen mit dem trefflich disponierten Philharmonischen Orchester Heidelberg tauchte er tief in Verdis Klangwelten ein und präsentierte sie mit großer Prägnanz und nuancenreich. Zeitweilig drehte er den Orchesterapparat mächtig auf, schlug aber auch kammermusikalische Töne an.

Fazit: Wer sich von dem äußeren Rahmen nicht abschrecken ließ, wurde mit einer ganz famosen, gut durchdachten, intensiven und temporeichen Aufführung belohnt, die jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt wird. Die Fahrt nach Heidelberg lohnt sich!

Ludwig Steinbach, 1.10.2018

Die Bilder stammen von Sebastian Bühler