Heidelberg: „Wir gratulieren“ / „Der Ring des Polykrates“

Besuchte Aufführung: 17.6.2017 (Premiere: 28.5.2017)

Imaginäre Künstlerbiographie

Das war wieder einmal ein beeindruckender Opernabend! Dem Theater und Orchester der Stadt Heidelberg ist ein grandioser Doppelabend mit zwei kürzeren Opern von Mieczyslaw Weinberg und Erich Wolfgang Korngold gelungen. Weinberg dürfte einem breiteren Publikum in den letzten Jahren durch viel beachtete Aufführungen seiner „Passagierin“ und des „Idioten“ ein Begriff geworden sein. Und Korngold kennt man von seiner grandiosen Oper „Die tote Stadt“ her. Es wäre aber verkehrt, die beiden Komponisten auf diese Werke zu reduzieren. Auch ihr übriges Oeuvre ist nicht zu verachten, wie jetzt in Heidelberg deutlich wurde. Die beiden Kurzopern atmen großen Reiz und haben es verdient, zum allgemeinen Repertoire der Opernhäuser zu zählen.

Für „Wir gratulieren“ – bei der Heidelberger Produktion handelt es sich um die deutsche Erstaufführung der Originalfassung – hat Weinberg persönlich das Libretto verfasst. Es beruht auf dem Schauspiel „Mazl tov“ des jüdischen Schriftstellers Scholem Alejchem, der in erster Linie durch seinen Roman „Tevje, der Milchmann“, die Vorlage zum berühmten Musical „Anatevka“, bekannt geworden ist. Die musikalische Ausbeute ist enorm. Weinbergs am 13.9.1983 am Kammertheater Moskau aus der Taufe gehobene, bereits aus dem Jahr 1975 stammende Oper ist gänzlich der Moderne verpflichtet, klingt aber an keiner Stelle gewöhnungsbedürftig. Wie auch bei anderen Kompositionen Weinbergs wird der Einfluss seines großen Freundes und Mentors Schostakowitsch offenkundig. Seine Tonsprache ist vielschichtiger Natur. Sehr kammermusikalischen, lyrischen und oftmals recht melancholischen Stellen korrespondieren Passagen von großer Dramatik und Fulminanz. Auch der Einfluss von jüdischer Folklore, Synagogen- und Tanzmusik wird spürbar. In einmaliger Art und Weise vereinigt „Wir gratulieren“ in sich jüdischen Witz und beißende Sozialkritik.

Korngolds „Der Ring des Polykrates“ von 1916 stellt eine freie Adaption der gleichnamigen Komödie von Heinrich Teweles dar. Es ist in hohem Maße erstaunlich, was der noch nicht zwanzigjährige Korngold hier geleistet hat. Seine polyphone Musik ist ganz und gar der Spätromantik verpflichtet, recht emotional gehalten und lässt den Einfluss von Wagner nicht verkennen. Auch hier wird mit Leitmotiven gearbeitet. Die „Tote Stadt“ ist bereits vorauszuahnen. Für beide Stile hatte Olivier Pols am Pult ein gutes Gespür. Zusammen mit dem bestens aufgelegten Philharmonischen Orchester Heidelberg breitete er den ganzen musikalischen Reichtum der beiden Kurzopern expressiv und spannungsgeladen vor den Ohren des begeisterten Publikums aus.

Gloria Rehm (Fradl), Irina Simmes (Madame), Elisabeth Auerbach (Bejlja)

Beide Werke werden von ihrer geschichtlichen Einbettung geprägt. In „Wir gratulieren“ steht die Russische Revolution unmittelbar bevor. Das Ganze spielt in einem zweigeteilten Haus. Während im oberen Teil ein großes Fest vorbereitet wird – eine Verlobung steht an – sind die Dienstboten in ihrem Bereich es müde, sich ständig für die Oberschicht abrackern zu müssen. Zwei Paare veranstalten eine eigene kleine Feier, die aber schließlich von der Madame rigoros unterbrochen wird. Die hausfremden Gäste werden von ihr gnadenlos davongejagt. Auch beim „Ring des Polykrates“ spielt die Dienerschaft eine gewichtige Rolle. Der Paukist und Notenkopist Florian Döblinger und das Dienstmädchen Lieschen sind bei dem Hofkapellmeisterehepaar Arndt angestellt. Sie leben allesamt in schönster Eintracht, bis der Hausfrieden durch Peter Vogel, einen alten Freund des Hausherrn, gestört wird. Er hat Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates“ aufmerksam gelesen“ und wundert sich, warum er so viel Pech und Arndt so viel Glück hat. Er fordert seinen Freund auf, seine Frau zu fragen, ob sie schon vor ihm jemals geliebt habe. Es kommt zum Streit zwischen den Liebenden. Das Ganze endet jedoch gut und Peter Vogel wird entsprechend dem Grundgedanken der Ballade weggeschickt. Er stellt das Opfer dar, das den Frieden im Haus wieder herstellt.

Gelungen war die Inszenierung von Yona Kim. Ihre spannungsgeladene, temporeiche Regiearbeit war nicht zuletzt deshalb so beeindruckend, weil es der Regisseurin in trefflicher Art und Weise gelungen ist, einen roten Faden zu spinnen, der die beiden Stücke miteinander verbindet. Die Biographien der beiden Komponisten bilden den Ausgangspunkt von Frau Kims überzeugender Deutung: Sowohl Weinberg als auch Korngold waren Juden und mussten wegen der Verfolgung durch die Nazis aus ihren jeweiligen Heimatländern fliehen. Weinberg ging nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen 1939 nach Russland. Korngold kehrte von einer Amerikareise nicht mehr in das an das Deutsche Reich angeschlossene Österreich zurück und verdingte sich in Hollywood als erfolgreicher Filmmusik-Komponist. Hieran anknüpfend wartet die Regisseurin mit einer imaginären Künstlerbiographie auf. Gezeigt wird das Leben eines Künstlers im zaristischen Russland, der sich nach der Oktoberrevolution und dem Aufkommen der Sowjetunion genötigt sieht, seine Heimat zu verlassen und in die USA zu emigrieren. Dort wird er in Hollywood gleich Korngold ein Filmkomponist, der zweimal mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Geschickt wird ausgelotet, wie ein Künstler im 20. Jahrhundert unter den Repressalien staatlicher Macht gelebt und gewirkt hat. Derart erhält die Inszenierung eine starke gesellschaftskritische Brisanz.

Margrit Flagner, von der auch die gelungenen Kostüme stammen, hat einen Längsschnitt durch ein Haus auf die Bühne gestellt, das in seinen Schwarz-Weiß-Tönen in der ersten Oper noch etwas nüchtern wirkt. In „Wir gratulieren“ hat sich die Dienerschaft in ihrem auf der Vorbühne gelegenen Bereich versammelt, während die Herrschaft etwas abgehoben im Hintergrund residiert. Auf die Wände werden Chagall-Motive geworfen. Das Zarenehepaar ist genauso zu sehen wie Bilder von Stalin. Auf einer nach oben führenden Treppe erscheint ein Fiedler, der zu einem späteren Zeitpunkt blutüberströmt zurückkehrt. Ein Höhepunkt war, als gegen Ende des Werkes die beiden Kinder der Madame mit Stalin- bzw. Hitler-Masken auftreten und sich die Hand zum verhängnisvollen Hitler-Stalin-Pakt reichen. Jetzt gibt es nichts mehr zu lachen. Dass die Situation eigentlich keinerlei Anlass zur Freude gibt, wurde bereits vorher deutlich. Nachdem der zahlreiche Bücher von Marx’ „Das Kapital“ sein eigen nennende fliegende Buchhändler Reb Alter das Lied vom Tod seiner neun Brüder gesungen hat, legen die Protagonisten Konzertfracks an und holen ihre Geigenkästen hervor. Hier gemahnt Yona Kim eindringlich an die zahlreichen jüdischen Künstler, die während der NS-Zeit ihr Leben lassen mussten. Die Diener sind schließlich nicht mehr bereit, alle Schikanen der herrschenden Klasse widerspruchslos hinzunehmen und werden gegenüber der Madame handgreiflich.

Alexander Geller (Wilhelm Arndt)

Reb Alter und die Köchin Bejlja aus „Wir gratulieren“ lässt die Regisseurin in trefflicher Anwendung eines Tschechow’schen Elementes auch durch den „Ring des Polykrates“ geistern. Der bereits bekannte Fiedler erscheint ebenfalls wieder, diesmal in einer Clownsmaske. Hier ist das im Übrigen identische Bühnenbild ganz und gar in das Ambiente einer glanzvollen Hollywood-Villa eingetaucht, in die der imaginäre Künstler geflohen ist. Er hat es weit gebracht. Er wurde mit Auszeichnungen überhäuft und hat die Filmschauspielerin Laura Simmes – eine Hommage an die Sängerin der Laura, Irina Simmes – geheiratet. Ihre Filmplakate, wie beispielsweise „Cleopatra“ und „Die Piratenbraut“, werden immer wieder auf den Hintergrund projiziert. Die Musik zu diesen Filmen stammt von ihrem Ehemann, dem Oscarpreisträger Wilhelm Arndt, wie diese Plakate wissen. Der Fluss der Musik wird immer wieder durch das eingefügte, von Stanislav Novitsky am Flügel brillant gespielte Klavierkonzert für die linke Hand in Cis-Dur von Korngold unterbrochen. Der Komponist hatte es für den Pianisten Paul Wittgenstein komponiert, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor. Video-Screems zeigen die spielende linke Hand von Herrn Novitsky. Und dem uniformierten und kriegsversehrten Peter Vogel fehlt der rechte Arm. Er wird von der Regisseurin augenscheinlich mit Wittgenstein identifiziert. Das war alles recht überzeugend. Die über drei Stunden Spielzeit vergingen wie im Fluge.

Das aufgebotene Sängerensemble war trefflich aufeinander eingespielt und sehr homogen. Ks. Winfrid Mikus, der an diesem Abend seine 25jährige Zugehörigkeit zum Theater Heidelberg feierte, betonte darstellerisch gekonnt die heiteren Seiten des Reb Alter. Gesungen hat er mit seinem flachen, überhaupt nicht im Körper gestützten Tenor weniger ansprechend. Zu einer mehr komischen als ernsten Rolle geriet auch die Bejlja, die Elisabeth Auerbach mit profundem, volltönendem Mezzosopran auch bestens sang. Eine schauspielerische Glanzleistung erbrachte Gloria Rehm in der Doppelrolle der Fradl und des Lieschens. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem gut sitzenden, facettenreichen Sopran gut zu gefallen. Mit wunderbar sattem, intensivem, gefühlvoll und expressiv eingesetztem, dabei hervorragend fokussiertem Sopran stattete Irina Simmes die Laura aus. Auch die ständigen Wutausbrüche der Madame waren bei ihr in besten Händen. Alexander Geller klang als Wilhelm Arndt in der Mittellage passabel, ging aber in der Höhe ständig vom Körper weg, woraus in diesem Bereich eine flache Tongebung resultierte. Auch der Tenor von Namwon Huh s Florian Döblinger hätte tiefer verankert sein können. Mangels stimmlicher Durchschlagskraft war er an einigen Stellen kaum zu hören. Mit herrlich sonorem, differenzierungsfähigem Bariton und facettenreichem Spiel gab Ipca Ramanovic den Chaim und den Peter Vogel.

Fazit: Zwei unbekannte Opern von zwei genialen Komponisten, deren Nachspielen weiteren Opernhäusern dringendst ans Herz gelegt wird.

Ludwig Steinbach, 18.6.2017

Die Bilder stammen von Annemone Taake