Seit einiger Zeit steht Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel wieder auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper. Hierbei handelt es sich um eine beachtliche Angelegenheit. Was Regisseur Richard Jones und sein Bühnen- und Kostümbildner John Macfarlane hier zu bieten haben, stellt aufregendes und trefflich durchdachtes modernes Musiktheater mit einem starken psychologischen Einschlag dar. Dem Regisseur kommt es nicht darauf an, ein altbackenes Märchen auf die Bühne zu bringen. Vielmehr präsentiert er ein soziales Drama von immensem Tiefgang und setzt zudem noch auf einen knallharten Realismus. Hunger in seinen Extremen bildet den Hauptpunkt der gelungenen Inszenierung. Mangel an Nahrung wie auch ausgelassene Völlerei führt Jones gleichermaßen eindringlich vor. Nach Essen drängt, am Essen hängt doch alles. Das sieht man schon an dem Hauptvorhang, auf dem ein Teller mit Besteck abgebildet ist. Im zweiten Akt ist dieser mit Blut beschmiert und zum Hexenbild schließlich zerbrochen. Hier haben wir es mit einer gelungenen Symbolik zu tun.
Hänsel und Gretel und ihre Eltern sind Angehörige der Unterschicht. Sie fristen ihr Leben in einer alles andere als ansehnlichen Sozialwohnung. Der leere Kühlschrank verdeutlicht die große Armut, die hier herrscht. In diesem ärmlichen Umfeld mutet die von den Geschwistern an den Tag gelegte Fröhlichkeit sehr aufgesetzt an. Sie ist lediglich ein nur mäßig erfolgreicher Rettungsanker zur Bewältigung der desolaten Verhältnisse. Als letztes Mittel, ihrer trostlosen Situation zu entgehen, bleibt ihnen zu guter Letzt nur die Realitätsflucht. In immer stärkerem Maße träumen sich Hänsel und Gretel aus ihrem beschränkten Dasein hinaus in eine bessere Welt. Diese erscheint im zweiten Akt als ein Herrensalon mit Flügeltüren, der bis auf eine längs durch den Raum verlaufende riesige Speisetafel leer ist. Der Wald wird durch auf die Wände gemalte Büsche und Gestrüpp sowie durch eine Reihe von Statisten mit Baummasken versinnbildlicht. Eine interessante Erscheinung ist das Sandmännchen, dass Jones als dunkel gekleideten Greis vorführt. Neben derartigen gelungenen äußeren Eindrücken misst der Regisseur dieser Szene auch einen tieferen Sinn bei: Während die Geschwister übermütig die Erdbeeren verschlingen, die sie vorher gepflückt haben, beschmieren sie sich mit deren rotem Saft, sodass ihre Gesichter schließlich blutüberströmt zu sein scheinen.
Symbolisch vergießt Jones hier das Blut der von der Herrenliga gebeutelten Unterschicht – ein äußerst eindringliches Bild. Der Traum der Kinder von Reichtum und Glanz nimmt immer konkretere Formen an. Während der Pantomime am Ende des zweiten Aktes werden sie in ihrer Phantasie zur Herrschaft des prachtvollen Hauses. Sie legen elegante Gewänder an und lassen sich von einer Reihe von Köchen mit Wasserköpfen ein opulentes Mahl servieren. Derartig an dem großen Tisch sitzend und vornehm speisend erträumen sie sich den heiß ersehnten gesellschaftlichen Aufstieg, den ihnen die Realität indes verwehrt.
Ein Knusperhäuschen gibt es bei Richard Jones nicht. Stattdessen prangt auf dem abermals heruntergefahrenen Vorhang ein enormer, weit aufgerissener Mund. Auf dessen Zunge thront eine mehrstöckige Torte – ein stark surrealistisches Bild. Beim Auftritt der Hexe wird der Prospekt wieder zum Schnürboden emporgezogen und gibt den Blick frei auf die Backstube der Zauberin. Diese interpretiert der Regisseur als auf den ersten Blick gar nicht böses, freundlich anmutendes und biederes Hausmütterchen, das sich anscheinend gerne als Konditorin betätigt. Auf dem Backtisch sieht man eine Vielzahl von Torten und weiteren süßen Leckereien. Es ist durchaus nachzuvollziehen, dass Hänsel und Gretel, nun auf dem kulinarischen Höhepunkt ihres Traumes angelangt, sich an diesen Köstlichkeiten ungeniert schadlos halten. Bevor sie, jetzt doch Verdacht schöpfend, das Weite zu suchen trachten, stülpen sie die Hexe in bester Laurel-und Hardy-Manier rasch noch mit dem Gesicht in einen der Sahnekuchen. Darüber kann die schrullige Alte überhaupt nicht lachen. Im Folgenden wird Hänsel auf den linken Rand des Backtisches verbannt und Gretel muss der Magierin während des Hexenrittes bei der Kreation ihrer neusten Torte behilflich sein. Am Ende bugsieren die Geschwister ihre Peinigerin kurzerhand in den durch eine Glaswand einsehbaren Backofen. Die letztendliche Mutation der Hexe zu einem riesigen Kuchen, der von den befreiten Lebkuchenkindern kurzerhand in seine Einzelteile zerlegt wird, ist ein geradezu Heiterkeit erregender Anblick. Das war alles ausgesprochen überzeugend und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht.
Am Pult des bestens disponierten und klangschön aufspielenden Bayerischen Staatsorchesters erbrachte Robert Jindra eine ausgezeichnete Leistung. Bereits das Vorspiel klang unter seiner Leitung prachtvoll, ebenmäßig, warm, getragen und von großen Bögen geprägt. Die Tempi waren ausgewogen, weder zu schnell noch zu langsam. Im Folgenden wartete er insbesondere in den reinen Orchesterpassagen mit einer ungemeinen Dramatik auf und machte damit die Nähe des Werkes zu Wagner deutlich. Aber auch den lyrischen und volksliedhaften Stellen schenkte er große Beachtung. Daraus resultierte ein abwechslungsreicher, differenzierter und nuancenreicher Klangteppich, der sich obendrein durch dynamische Vielfalt und einen großen Farbenreichtum auszeichnete.
Auch mit den gesanglichen Leistungen konnte man voll und ganz zufrieden sein. Mirjam Mesak sang mit gut sitzendem, beweglichem lyrischem Sopran eine gute Gretel. Neben ihr bewährte sich die über angenehmes und tiefgründiges Mezzosopran-Material verfügende Angela Brower als ziemlich burschikoser Hänsel. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke machte aus der Hexe darstellerisch ein wahres Kabinettstückchen. Gesanglich überzeugte er ebenfalls mit gut im Körper verankertem Tenor. Einen robusten Bass-Bariton brachte Milan Siljanov in die Partie des Besenbinders Peter ein. Die imposante Stuttgarter Hexe Rosie Aldridge hat ihre Rolle gewechselt und war hier als sehr kräftig singende Gertrud zu erleben. Voll und rund sang Ekaterine Buachidze das Sandmännchen. In gleicher Weise ansprechend war das trefflich intonierende Taumännchen von Eirin Rognerud. Klangschön präsentierte sich der von Kamila Akhmedjanova einstudierte Kinderchor der Bayerischen Staatsoper.
Fazit: Eine in jeder Beziehung hervorragende Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist!
Ludwig Steinbach, 9. Dezember 2024
Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck
Bayerische Staatsoper
Premiere: 24. März 2013
Besuchte Aufführung: 8. Dezember 2024 (vormittags)
Inszenierung: Richard Jones
Musikalische Leitung: Robert Jindra
Bayerisches Staatsorchester