Bayreuth: „Die Walküre“

Premiere: 2013

Besuchte Vorstellung (Dernière) am 29.8.2018

Denn es ist hohe Zeit…

(Anmerkung Arthur Schopenhauers am Schluss des ersten Akts im Textbuch der „Walküre“)

Da der Rezensent wieder mal einen Sitzriesen vor sich sah – andere Besucher hatten mit über zwei (2) Meter Gardemaß noch wesentlich größere Herr- und Frauschaften vor sich -, erübrigt sich ein neuerlicher Blick auf Frank Castorfs Inszenierung, obwohl es natürlich schade ist, Nietzsche Recht zu geben, der einmal schrieb, dass Wagner der Erfinder des Hörspiels sei. So geht’s halt oft im Festspielhaus zu. Was ich im ersten Akt allerdings immer sah (und oft vernehmlich hörte), waren zwei am rechten Bühnenrand im Käfig sitzende Solisten, die die Festspielleitung seltsamerweise nicht auf dem Programmzettel verzeichnet hat: zwei Exemplare der Spezies Meleagris gallopavo, zu deutsch: zwei Truthühner mit erstaunlich musikalischem Sinn. Immerhin schaffte es das Weibchen – oder war es das Männchen? -, genau nach der Stelle „Lustig lacht da der Blick“ lustvoll zu kollern. Eine grandiose Sängerleistung! Was über die Regie zu sagen war, wurde, zumindest von mir, vor zwei Jahren an dieser Stelle gesagt. Konzentrieren wir uns zunächst auf das, was im Vorfeld, in den Pausengesprächen und nach der Aufführung im Mittelpunkt der Diskussionen stand: das Dirigat Placido Domingos. Kleine Anekdote am Anfang: Als vor vielen Jahrzehnten ein Mann aus der MET kam, wo er gerade den „Parsifal“ gesehen hatte, fragte er einen Passanten: „Is Roosevelt still President?“

In Bayreuth kann man den Witz nun auch auf die Kanzlerin Merkel übertragen.

Domingo, um bei den nackten Zahlen zu bleiben, braucht für seine Arbeit am Pult des Festspielorchesters eine knappe halbe Stunde länger als Boulez im Jahre 1980. Wer Boulez‘ Wagner-Interpretationen für überhetzt halten mag – im Fall seines ersten Bayreuther „Parsifal“ war sie es möglicherweise -, sollte sich vergegenwärtigen, dass seine „Walküre“ nicht wesentlich länger oder kürzer als die seines Kollegen Wilhelm Furtwängler war, dessen Wiener „Walküre“ auf dieselbe Zeit kam: ziemlich genau 3,5 Stunden. Die Messung der Aktlängen der ersten Bayreuther Festspiele, bei denen Hans Richter am Pult stand, zeigen interessanterweise, dass Furtwänglers Tempi nicht schneller und nicht länger waren als die des ersten Bayreuther „Ring“-Dirigenten (auf einem anderen Blatt Papier steht Wagners Äußerung nach den ersten Festspielen, dass niemand sein Tempo kenne). Domingo aber braucht für die „Walküre“ insgesamt eine knappe halbe Stunde länger. Damit hat er Knappertsbusch geschlagen, der einmal 3 Stunden und 57 Minuten fürs Janze benötigte. Das ist, pardon, dem Musikdrama nicht zuträglich. Das ist, entschuldigung, dort tödlich, wo es darum geht, ein Musikdrama zu realisieren. Der gesamte erste, die gesamte zweite Hälfte des zweiten und weite Strecken des dritten Akts aber schleppen sich dahin, brechen spannungsmäßig auseinander wie die Todverkündigung, unterbrechen stringente Bögen und provozieren im Hörer das Gefühl, das Kommando „Nicht schleppen!“ in den Orchesterrraum rufen zu müssen. Wer den Sänger einmal dirigieren sah – auf Youtube gibt es einige abschreckende Beispiele -, weiß allerdings, wie diese radikalen Tempoverschleppungen entstanden sind. Domingo kommuniziert weder mit den Sängern – in Bayreuth ist dies die wichtigste Aufgabe eines Dirigenten, erst danach kommt die „Kunst“ – noch mit den Musikern. Er webt und wabert vor sich hin, den Blick in die Noten gerichtet, die Musik mit seinen Händen nachformend. Musikalische Leitung ist etwas Anderes. Nein, Placido Domingo ist kein Dirigent.

Nun wäre der Hörer schon ein Schelm, würde er nicht auch gelegentlich Schönes bemerken. Da sich im ersten Akt der musikalische Duktus wie ein Bummelzug durch die Partitur bewegt, weil sich das Orchester, notgedrungen, auf den „schönen Stellen“ ausruhen muss, und da Wagners gesamte Partitur eine einzige schöne Stelle ist (getreu dem klugen Motto Arnold Schönbergs, wonach es bei den großen Meistern keine schönen Stellen, sondern allein schöne Werke gäbe), hat der Hörer die Chance, Farben und Nuancen zu entdecken, die in „gewöhnlichen“, also musikalisch spannenderen Aufführungen ein wenig schneller ins Ohr dringen. Wo selbst der schnelle Teil des Dialog-Duetts von Siegmund und Sieglinde wie ein balsamisch strömender Liederabend für ein Gesangsduo klingt – Anja Kampe und manchmal auch Vincent Wolfsteiner machen das mit erstaunlich souveräner Durchhaltekraft, indem sie atmen, atmen, atmen -, hört man natürlich viele Details der farbenreichen Partitur, wenn auch die Klangmischung gelegentlich zu mischig ist. Dem analytischen Hörern setzt der abgedeckte Orchestergraben bekanntlich eindeutige Grenzen. Vieles in diesem Duett klingt an diesem Abend leiser, weicher, vorsichtiger. Ein Blick in die Vortragsbezeichnungen der Partitur lehrt tatsächlich, dass Wagner auch hier keine Elefantenmusik komponiert hat. Pierre Boulez hat im besten aller Bayreuther „Ring“-Bücher darauf hingewiesen, dass der Komponist des Deliziösen nach „Siegmund, den Wälsung, siehst du Weib!“ ein Pianissimo vorgeschrieben wird, dass diese Passage also fließen müsse „wie in einer Art Nirwana, einer gebändigten Extase“. Es klingt hier tatsächlich so, wie es Boulez analysiert hat, doch versagt Domingo dort, wo es gilt, die Begeisterung zum Paroxysmus zu steigern. Glutvoll ist etwas anderes. Aus dem Liederabend müsste spätestens 100 Takte vor dem Schlussakkord des ersten Akts ein Feuerbrand werden. Hier trottet, pointiert ausgedrückt, die Musik relativ gemächlich der wohlverdienten Pause entgegen.

Anja Kampe rettet allerdings auch weite Passagen des zweiten Akts – ganz abgesehen davon, dass Catherine Fosters Brünnhilde heuer ihren vokalen Höhepunkt erreicht zu haben scheint; schöner, stimmlich runder und zugleich spannungsvoller kann man diese Partie kaum singen. Anja Kampe also: „Da er sie liebend umfing…“, frau kann das, auf dem Kothurn eines (langsamen) subtilen Streicher- und Holzbläserklangs, nicht zarter und anrührender singen. Und wie sang man und frau neben der alles und alle, selbst die wunderbare Catherine Foster überstrahlenden Anja Kampe sonst so? Vincent Wolfsteiner hat bereits viel Wagner gesungen, er hat große Erfahrung mit diesen schweren Partien, er meistert sie stimmlich souverän und kraftvoll, aber vielleicht sang er schon zu viel Wagner. Mich hat sein Timbre ein wenig an das des insgesamt, nicht stimmlich bedeutendsten Siegmund der letzten 40 Bayreuth-Jahre erinnert: an Peter Hofmann. Dessen Tremoli waren bekanntlich Geschmackssache.

Greer Grimsley bewältigt die Wotan-Partie mit Nachdruck, leider auch mit Dauerknödeln, und Marina Prudeskaya wäre eine wirklich gute Fricka, würde man den Text besser verstehen. Die herrlich gewandete Powertruppe der Walküren bildt ein starkes, ziemlich homogenes Ensemble, was ja auch heißt, dass sie in ihren merkbaren Verschiedenheiten harmonieren müssen: Caroline Wenborne, Christiane Kohl, Simone Schröder, Marina Prudeskaya, Regine Hangler, Mareike Morr, Mika Kaneko und Alexandra Petersamer.

Ja, ich werde sie vermissen. Ich werde sogar die Inszenierung vermissen, an die man sich schlussendlich gewöhnt hat (was nicht als Lob, sondern als Selbstkritik verstanden werden sollte), weil dank der Macht des gewaltigen Bühnenbildes (die Ölstation im Baku der vorletzten Jahrhundertwende) und der vokalen Integrität der meisten Sängerinnen und Sänger sowie, nicht zu vergessen, der fleißigen Statisten einschliesslich des Edelstatisten und Dramaturgen Patric Seibert, die hier hinreißend plakativ Russische Revolution spielen, ein fantastischer allerletzter Castorf-und-Denic-Walküren-Abend auf die Bühne gestellt wurde.

P.s.

„Wahrscheinlich beabsichtigte Wagner nach der Vollendung des gesamten Zyklus und nachdem er selbst exemplarisch gezeigt hatte, wie die musikdramatischen Einzelwerke des ‚Ring‘ aufgeführt werden sollen, keine weiteren Aufführungsbeschränkungen.“ So steht’s im Programmheft: als Legitimation einer historisch vergleichslosen Einzelaufführung eines Bruchstücks der „Ring“-Tetralogie während der Bayreuther Festspiele (wenn man einmal die Gewerkschaftsaufführugen seligen Angedenkens vergisst, die allerdings imemr eingebettet waren in komplette „Ring“-Zyklen).

Das ist, um Charles Dickens und seinen Mr. Scrooge zu zitieren, Humbug. Wenn Edward und Paula M. Bortnichak behaupten, dass Wagner „wahrscheinlich“ etwas beabsichtigte, geraten sie – sie sind da immerhin ehrlich – ins Spekulieren. Wenn sie schreiben, dass Wagner deshalb seine Zustimmung zu den Münchner Teil-Uraufführungen von „Rheingold“ und „Walküre“ gab, weil sie „zu einem Zeitpunkt stattfanden, als er sich mit dem gesamten Zyklus noch im Schaffensprozess befand und befürchten musste, dass die einzelnen Segmente möglicherweise das Publikum zu falschen und vorschnellen Urteilen über den gesamten ‚Ring‘ verleiten könnte“, kennen sie die Fakten nicht – und ziehen Wagners Verhältnis zum Mann, der die Uraufführungen kraft seiner Macht befehlen und ins Werk setzen konnte, nicht in Betracht. Zum einen konnte Wagner dem bayerischen König, dem er laut Vertrag von 1864 die „Besitzrechte“ an den Partituren verkauft hatte, nicht gut die Aufführungsrechte abschlagen, obwohl er 1862 im Vorwort zum Textbuch des „Ring des Nibelungen“ klipp und klar gesagt hatte, dass das Werk nur als Ganzes in einer besonderen Festveranstaltung gespielt werden sollte. Seine Zustimmung zur Uraufführung der „Walküre“, wie er sie am 22. März 1869 dem König in einem Brief mitteilte, enthält die wichtige Mitteilung, dass dieses Einzelwerk, wenn es denn separat aufgeführt würde, „NUR vor eingeladenem Publikum und unentgeltlich stattfinden sollten. Die Aufführungen dürften keinesfalls vor einem gewöhnlichen Theaterpublikum stattfinden, „welches seiner Neugierde durch Bezahlung seiner Plätze Genüge zu verschaffen weiß“. Wagner hasste nichts so sehr wie gewöhnliche „Opernaufführungen“ – er setzte auf sein „Bühnenfest“.

Als sich ein Jahr später im Fall der „Walküre“ das Spiel wiederholte, schrieb Wagner, nun in schärferem Ton, dem König, dass er, wenn er denn Lust habe, dieses Bruchstück zu sehen, es „FÜR SICH aufführen“ lassen solle: „Schließen Sie aber das Publikum aus.“ Würde der König dies nicht so realisieren, „so werde ich – da ich die unerträglichsten Folgen voraussehe – zwar nie in Unmut verfallen, doch müsste ich auf lange Zeit vor Ihnen verstummen.“ Und so kam es denn. Die Partituren des „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ verlieben bis zur von Wagner verantworteten ersten Gesamtaufführung des Zyklus in Bayreuth, weil der Komponist sich – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – weigerte, seine vollendeten Werkteile nach München zu senden. Von hier aus darauf zu schließen, dass Wagner, der die Tetralogie musikalisch und dramaturgisch – trotz offensichtlicher, gewollter und notwendiger stilistischer Brüche – als großen Zusammenhang konzipierte, Einzelaufführungen – und gerade in Bayreuth! – erlaubt hätte, ist, um es vornehm auszudrücken, naiv. Es sind nicht die angeblichen Forschungsergebnisse von Musikwissenschaftlern, die suggerieren, dass Wagner dem zugestimmt hätte, sondern einzig und allein die Ideen von Dramaturgen und Regisseuren, die nicht, das ist so eine Mode, in der Lage sind, einen integralen „Ring“ zu akzeptieren. Wagner drehte sich nun, so ist zu vermuten, angesichts der Separataufführung der „Walküre“ in „seinem“ Festspielhaus vor einem gewöhnlichen Theaterpublikum, „welches seiner Neugierde durch Bezahlung seiner Plätze Genüge zu verschaffen weiß“, mehrmals im Grab herum. Denn viele Besucher kamen gewiss nicht, weil Richard Wagners „Walküre“ auf dem Programm, sondern weil ein „Dirigent“ am Pult stand, den man einst als überragenden Tenor verehrt hat.

P.p.s.

Wenn man schon Wagners Intentionen folgen will, so muss man unbedingt einen Plan verwirklichen, den er 1862 im Vorwort zum Textbuch des „Ring des Nibelungen“ fixiert hat. Neben den alle zwei oder drei Jahre stattfindenden „Originalaufführungen“ des (kompletten) „Ring“ müsste „ein neues Originalwerk ähnlichen Stiles, oder überhaupt der Auszeichnung solcher Aufführung wert erscheinend“ in einem Preisausschreiben ermittelt werden und an „jährlich wiederkehrenden Festen“ gespielt werden. Diese Idee Richard Wagners ist keine Spekulation, sondern war eine konkrete Forderung.

Also: Wenn man schon Wagner interpretiert, dann bitte philologisch korrekt. Wir warten, nach dem „verschwundenen Hochzeiter“, auf die nächste jährliche Uraufführung der Bayreuther Festspiele – doch bitte nicht im „Reichshof“, sondern im Festspielhaus. So, wie Wagner es wollte.

Frank Piontek, 30.8.218

Fotos: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath