Bayreuth: „Die Walküre“

Besuchte Aufführung: 24.8.2017 (Premiere: 30.7.2017)

Revolution in Russland

Anders als in seinem voll gelungenen „Rheingold“ ging Frank Castorf bei der „Walküre“ vor. Während er den Vorabend des „Ring“ am Tag zuvor noch gänzlich gegen den Strich gebürstet hatte, mutete seine Personenregie am ersten Tag der Tetralogie eher konventionell, eben wie große Oper, an und bewegte sich recht nah am Libretto entlang. Provokationen wurden dieses Mal gänzlich ausgespart. Das ist man von diesem Regisseur wahrlich nicht gewohnt.

Camilla Nylund (Sieglinde), Christopher Ventris (Siegmund)

Wie bereits beim „Rheingold“ hat Castorf auch bei der „Walküre“ erheblich weitergearbeitet und gegenüber den Vorjahren einige Änderungen vorgenommen. Ein gewisses Gewicht kam erneut den Filmprojektionen zu, die indes nicht so ausgeprägt waren wie noch im „Rheingold“. Demzufolge fiel es hier etwas leichter, sich auf die parallel ablaufenden bzw. verdoppelten Handlungsstränge zu konzentrieren. Der Zuschauer kann beispielsweise Hunding und Sieglinde per Video bis in ihr Schlafgemach verfolgen. Erneut dominiert das Big-Brother-Prinzip, die Privatsphäre steht nicht gerade hoch im Kurs. Die Beispiele dafür sind mannigfaltiger Natur. Auch die Einschläferung Brünnhildes am Ende der Oper – sie darf vor ihrem Entschlummern noch schnell den Koffer packen – erschließt sich dem Publikum nur mit Hilfe von Videoprojektionen. Zum abschließenden Feuerzauber steckt Wotan ein riesiges Ölfass in Brand. Hatte man sich hier eine Feuersbrunst entsprechend dem Ölbrand auf den Feldern von Kuwait erwartet, wurde man enttäuscht. Diese blieb aus.

Georg Zeppenfeld (Hunding), Christopher Ventris (Siegmund )

Deutlich wird, dass auch bei der „Walküre“ wieder Erdöl im Mittelpunkt der regielichen Betrachtungen steht. Gekonnt wird von Castorf, seinem Bühnenbildner Aleksandar Denic und der Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki eine Brücke vom Texas der 1960er Jahre, in dem das „Rheingold“ spielte, nach Aserbaidschan geschlagen. Das ist nur folgerichtig, denn dort wurde Erdöl erstmals schon im Jahre 1873 industriell gefördert. In diesem Jahr hat Russland den ersten Schritt zur Oktoberrevolution von 1917 getan. Die industrielle Erdölgewinnung und -verarbeitung hatte enorme wirtschaftliche und soziale Veränderungen zur Folge. Diese führten zu guter letzt zu der von Karl Marx propagierten „Diktatur des Proletariats“ und schließlich zur Gründung der Sowjetunion. Immer mehr intensivierten sich die kapitalistischen Auswüchse, die in Europa in dieser Zeit entstanden und die auch Wagner in seinem „Ring“ beherzt anprangerte. Genau an dieser Stelle setzt auch Castorf an. Behände greift er die Gedankenwelt des Bayreuther Meisters auf und begibt sich in dessen Fahrwasser.

John Lundgren (Wotan)

Mit Hilfe der Götter, die er in ein sehr zweifelhaftes Licht taucht, zeigt der Regisseur die damalige fragwürdige Situation auf. Das trifft insbesondere auf den Göttervater zu. Wotan hat sich vom Mafia-Boss des „Rheingoldes“ zu einem Rasputin nachempfundenen vorrevolutionären Ölpatiarchen mit einem wahren Rauschebart gewandelt. Fricka wirkt sehr elegant und königlich, Brünnhilde stellt eine Angehörige der Businesswelt dar. Der Obergott hat es nachhaltig darauf abgesehen, alle Ölvorkommen in Aserbaidschan ohne Entschädigung zu annektieren. Das entspricht ganz der damaligen politischen Lage im „Land des Feuers“. Sein Pech besteht allerdings darin, dass der zaristische Ölmagnat Hunding, der auf seinen Speer den Kopf eines Feindes aufgespießt hat, dagegen viel einzuwenden hat und gleich dem jungen Stalin, einem der Väter der kommunistischen Ideologie, von Baku aus auf Konfrontationskurs zu Wotan geht. Zusammen mit Sieglinde lebt Hunding in einer riesigen Ölförderungsanlage, die als Erinnerung an die alte Werteordnung gleichzeitig auch als Kirche – ihr Turm gibt dem Ganzen einen etwas sakralen Anstrich – und als Stall genutzt wird, in dem viele Heuballen aufgestapelt sind und in dem in einem Käfig ein Truthahn gehalten wird.

Kleine Walküren

Von diesem Ort entwickelt sich langsam, aber sicher die Oktoberrevolution. Für deren Ausbruch zieht das Regieteam historisches Filmmaterial heran, das ständig über Leinwände flimmert. Opfer sind zu beklagen. Auf eindringliche Art und Weise wird das Auditorium mit der großen Not und dem Elend der ausgebeuteten und hungernden Arbeiter von Baku konfrontiert. Es ist nachvollziehbar, dass diese nicht länger gewillt sind, sich dem sozialen Elend und den desolaten Lebens- und Arbeitsbedingungen unterzuordnen, und sich letztlich zur Wehr setzen. Ihr Kampf nimmt immer stärkere Ausmaße an, was von Castorf erneut mit filmischen Mitteln ausgedrückt wird. So wird man Zeuge, wie Sprengstoff produziert wird. Während des ebenfalls nur als Projektion sichtbaren Kampfes zwischen Siegmund und Hunding setzen die Aufständischen dazu an, den Bohrturm in die Luft zu sprengen. Während des Walkürenrittes zu Beginn des dritten Aufzuges stürmen sie ihn, werden indes von der Explosion allesamt getötet. Anschließend feiern die sehr individuell gezeichneten, offenbar von verschiedenen Müttern abstammenden Walküren den Sieg über die Feinde. Sie hissen die rote Fahne und ergehen sich in kommunistischen Kampf- und Durchhalteparolen.

John Lundgren (Wotan), Tanja Ariane Baumgartner (Fricka)

Einen Ausfluss der Oktoberrevolution bildete im Jahre 1918 die sog. Bakuer Kommune. Wotan erkennt messerscharf den Wandel der Zeiten und mutiert von Rasputin zu einem bartlosen obersten Volkskommissar. Entsprechend der Historie bezweckt er mit einer Reihe von Dekreten die Verstaatlichung der Erdölvorkommen. Damit sind die privaten Ölbarone aber ganz und gar nicht einverstanden. Andererseits kennen sie sich mit den neuen Förderungstechniken nicht aus, was von Castorf folgendermaßen versinnbildlicht wird: Im Verlauf der großen Auseinandersetzung zwischen Wotan und Brünnhilde nähert sich eine offenbar neu angeschaffte Ölpumpe gefährlich nahe der Rampe. Erst unmittelbar vor dem versenkten Orchestergraben kommt sie schließlich zum Stehen. Dies geschieht just in dem Augenblick, als sich Brünnhilde gegenüber Wotan zu ihrem Halbbruder Siegmund bekennt. Das humane Gefühl tiefer, aufrichtiger Liebe hält die Welt zusammen und nicht Industrie und Technologie. Konsequenterweise sieht Castorf das Zwiegespräch zwischen Wotan und Brünnhilde als Liebesszene mit inzestuösem Einschlag. Hier dominieren tief empfundene Emotionen. Dass ihr Vater sie auf den Mund küsst, gefällt der Walküre indes überhaupt nicht. Gefühle prägen die gesamte Inszenierung.

Christopher Ventris (Siegmund), Camilla Nylund (Sieglinde)

Insgesamt ansprechend waren die vokalen Leistungen. Eine Ausnahme stellte Christopher Ventris dar, dem es mit seinem nicht gerade gut im Körper verankerten, jeglicher soliden italienischen Technik abholden und flachen Tenor nicht gelang, dem Siegmund sonderliche stimmliche Konturen zu entlocken. Da war ihm die wunderbare Camilla Nylund in der Rolle der Sieglinde um Längen voraus. Hier haben wir es mit einem großartigen, bestens fokussierten, emotional angehauchten und ausdrucksstarken jugendlich-dramatischen Sopran zu tun, der sowohl die Altlage als auch die enormen Höhen und Jubelausbrüche der Partie mit Bravour meisterte. Eine hervorragende Leistung erbrachte auch Catherine Foster, bei der es sich um die derzeit wohl beste Brünnhilde handeln dürfte. Sie hat alles, was eine Sängerin für diese höchst anspruchsvolle Rolle braucht. Sie verfügt über große Stimmkraft und eine breite Skala an Farben und Nuancen. Ihr trefflich fokussierter und strahlkräftiger hochdramatischer Sopran sprach in jeder Lage bestens an und wurde obendrein mit viel Gefühl und großer Innigkeit geführt – alles Voraussetzungen, um ihre Leistung sehr differenziert und nuancenreich erscheinen zu lassen. Bravo! In nichts nach stand ihr John Lundgren, der schon schauspielerisch als Wotan sehr erfurchtsgebietend und autoritär wirkte. Gesanglich begeisterte er mit einem prachtvollen, dunkel timbrierten, tadellos verankerten und intensiven Bass-Bariton, den er abwechslungsreich einzusetzen wusste. Tanja Ariane Baumgartner war eine prächtig singende, klug argumentierende Fricka. Mit wunderbarer italienischer Gesangstechnik, sonorem Stimmklang und markanter Diktion wertete Georg Zeppenfeld die kleine Partie des Hunding auf. Ansprechend präsentierte sich das Ensemble der kleinen Walküren, das aus Caroline Wenborne (Gerhilde), Dara Hobbs (Ortlinde), Stephanie Houtzeel (Waltraute), Nadine Weissmann (Schwertleite), Christiane Kohl (Helmwige), Mareike Morr (Siegrune). Simone Schröder (Grimgerde) und Alexandra Petersamer (Roßweise) bestand).

Feuerzauber "wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!"

Wieder voll in seinem Element zeigte sich Marek Janowski am Pult. Im Gegensatz zum „Rheingold“ hielt er alle Fäden trefflich zusammen und animierte das bestens aufgelegte Bayreuther Festspielorchester zu einer abwechslungsreichen, sehr gefühlvollen und differenzierten Tongebung. Wunderbar leise und emotional angehaucht war beispielsweise das erste Erklingen des Wälsungen-Motivs im ersten Aufzug. Großartig und erhaben erklang die Todesverkündigung. Prägnant war der Walkürenritt. Hier und dort hätte er indes den Lautstärkepegel etwas zurückdrehen können. Indes hatte die große Zustimmung des Publikums, die ihm beim Schlussapplaus zugute kam, durchaus ihre Berechtigung.

Fazit: Eine Aufführung, die entgegen Castorfs sonstiger Gewohnheit gänzlich ohne Provokationen auskam und auch musikalisch und gesanglich insgesamt gut gefiel.

Ludwig Steinbach, 30.8.2017

Die Bilder stammen von Enrico Nawrath.