Bayreuth: „Das Rheingold“

Besuchte Aufführung: 23.8.2017 (Premiere: 29.7.2017)

Stilgemisch und Dekonstruktion

Jetzt heißt es Abschiednehmen. Dieses Jahr steht Frank Castorf s grandiose Inszenierung von Wagners „Ring“ zum letzten Mal auf dem Spielplan der Bayreuther Festspiele. Schade ist es schon, dass dieser Produktion nur eine Laufzeit von fünf Jahren beschieden war, aber das scheint ja in Bayreuth der übliche Turnus zu sein. Angesichts der ungemein hohen Qualität dieses „Rings“ wäre es schön gewesen, wenn er sich noch länger auf dem Programm der Festspiele gehalten hätte. Castorf ist schon ein begnadeter Regisseur. Langweilig wird es bei ihm nie. Auch dieses Jahr war seine von einer ausgefeilten Personenführung geprägte Regiearbeit abwechslungsreich, spannungsgeladen und manchmal sogar heiter. Es spricht für sich, dass die Inszenierung dieses Jahr vom Publikum widerspruchslos, ganz ohne Buhrufe, aufgenommen wurde.

Alexandra Steiner (Woglinde), Wiebke Lehmkuhl (Flosshilde), Albert Dohmen (Alberich), Stephanie Houtzeel (Wellgunde)

Castorf hat heuer im „Rheingold“ noch einmal einige Änderungen vorgenommen. Bereits die einleitende Rheintöchter-Szene präsentierte sich etwas anders als in den vergangenen Spielzeiten. Aber auch im Folgenden war nicht mehr alles ganz genau so, wie man es von früher in Erinnerung hatte. Das entspricht indes voll und ganz dem auf dem Festspielhügel geprägten Prinzip der „Werkstatt Bayreuth“. Danach ist eine Produktion nicht mit ihrer erstmaligen Premiere fertig, sondern es wird in den folgenden Jahren an ihr weitergearbeitet. Und das hat Castorf nicht zu knapp getan. Sein Grundkonzept besteht nicht etwa in hellem, sondern in schwarzem Gold. Gemeint ist damit Erdöl. Seit seiner erstmaligen professionellen Förderung im US-Bundesstaat Pennsylvania hat es in immer stärkerer Art und Weise die Geschicke der Menschheit bestimmt. Für Castorf stellt es ein zeitalterübergreifendes Sinnbild ständigen, unaufhaltsamen Profitstrebens dar. Nachhaltig prangert er damit gleich Wagner selbst die Diktatur des Kapitalismus an. In diesem Punkt sind sich Komponist und Regisseur einig. Beiden ist es um eine ideologische Abrechnung mit den Wertmaßstäben ihrer Gesellschaft zu tun, deren Hauptstreben von Ware und Geld dominiert ist. Es wird deutlich, dass der Antikapitalismus des Bayreuther Meisters nichts an Aktualität verloren hat. Castorf kommt es demzufolge auch darauf an, ganz im Sinne Wagners mit den anrüchigen Strukturen des zeitgenössischen Kapital-, Geschäfts- und Wirtschaftslebens abzurechnen. Dabei wird auch seine Vorliebe für Karl Marx spürbar. An dieses Verständnis anknüpfend lassen er und sein Bühnenbildner Aleksandar Denic das Geschehen sich in einem an der texanischen Route 66 erbauten Golden Motel der 1960er Jahre einschließlich Texaco-Tankstelle, Kiosk und Swimmingpool abspielen. Mit Hilfe der Drehbühne ist dabei ein rascher Wechsel der Schauplätze möglich.

Ensemble

Es ist schon sehr aufregend, dem munteren Geschehen zuzusehen, das Castorf so gekonnt und locker auf die Bühne bringt. Auch dieses Jahr fordert er seinen mitspielenden Dramaturgen und Regieassistenten Patric Seibert ungemein. Dieser ist Betreiber des Shops und darf immer wieder an dem Spiel teilnehmen. Auch der von Adriana Braga Peretzki mit goldenem Kleid und Pelzmantel versehenen Puffmutter Erda kommt in Castorfs Interpretation große Bedeutung zu. Zwischen ihr und dem als Mafiaboss vorgeführten Wotan geht es ganz schön zur Sache, während der Rest der offenbar aus Italien eingewanderten Götter – eine Sippe von Machos und Schlampen – ein Fest zur Einweihung des medial über einen Monitor flimmernden und auf wackligen Beinen stehenden Prachtbaus Walhall feiert. Man muss sich fragen, ob Brünnhilde bereits an dieser Stelle gezeugt wird. Ihr Vater ist ein Gangster, wie auch die ganze Handlung hier eine Gangsterballade darstellt. Das Rheingold versteht das Regieteam als eine auf dem Grund des Swimmingpools liegende goldene Decke. Später wandelt es sich zu Barren. Am Rand des Schwimmbeckens haben die Rheintöchter zu Beginn ihre Badeanzüge zum Trocknen aufgehängt. Der bequem in einem Liegestuhl liegende moderne Cowboy Alberich, der eine niedliche Loriot-Ente sein eigen nennt, muss dieses Jahr nicht mehr mit Senf beschmiert werden, um auf die flotten Mädchen scharf zu werden. Auch die Bratwurst-Szene präsentiert sich den Zuschauern anders als noch in den vergangenen Jahren. Die Riesen sind bei Castorf Ölmagnate. Fafner trägt wieder einen Ölbart, Fasolt dagegen nicht.

Iain Paterson (Wotan), Albert Dohmen (Alberich), Roberto Sacca (Loge)

Immer noch wird der bei den Lehren von Kate Mitchell seinen Ausgang nehmende Einsatz von Filmprojektionen stark überstrapaziert. Das Geschehen auf der Bühne wird ständig von zwei Kameraleuten gefilmt und auf Leinwände geworfen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass dadurch Mimik und Gestik der Handlungsträger intensiviert werden. Auf der anderen Seite fällt die Entscheidung, ob man sich auf die Filme oder das Bühnengeschehen konzentrieren soll, nicht gerade leicht. Dementsprechend erscheint Nibelheim als ein pseudo-realer Filmset, in dem Alberich und Mime in einem Wohnwagen hausen. Alptraumhaft und grotesk wirken die übereinandergelagerten visuellen Ebenen. Die kognitive Überforderung des Auditoriums ist indes als Abbild unserer von ständigem Stress geprägten zeitgenössischen Alltagswelt vom Regisseur gewollt. Und noch mehr. So zum Beispiel, wenn Wotan zu Beginn des zweiten Bildes zusammen mit seiner Frau Fricka und seiner Schwägerin Freia im Bett liegt, wo ihn der verzweifelte Anruf von Wellgunde erreicht, die ihn von Alberichs Goldraub unterrichtet. Sie und ihre beiden Schwestern erholen sich in einem anderen Zimmer vom Verbrechen des Nibelungen. Aber auch sie können sich den neugierigen Augen des Publikums nicht entziehen. Offenkundig wird, dass das Texas der 1960er Jahre zu einem Überwachungsstaat verkommen ist, in der jeglicher Art von Privatsphäre keine Bedeutung mehr zukommt. Big Brother is watching you.

Ian Paterson (Wotan), Nadine Weissmann (Erda)

Allgemein wird das Medium Film von Castorf ganz groß geschrieben. Dem „Rheingold“ streift er kurzerhand die Ästhetik der Filme von Quentin Tarantino über. George Stevens’ Klassiker „Giganten“ scheint er ebenfalls zu schätzen. Er geht recht assoziativ vor und fordert die Zuschauer zum Mitdenken auf. Bertolt Brecht lässt grüßen. Entsprechend Brechts berühmtem Postulat „Glotzt nicht so romantisch“ intendiert auch Castorf eine totale Desillusionierung der Besucher. Sie sollen nicht staunen, sondern verstehen, was sich da vor ihren Augen abspielt. Insbesondere durch den Verfremdungseffekt werden einige Aspekte noch stärker beleuchtet. Während Brecht sich zur Erzeugung einer Antiillusion lediglich auf sein Episches Theater beschränkt, erzeugt Erwin Friedrich Max Piscator – unter seiner Ägide wurde das Theater zum politischen Tribunal – ein jeglicher romantischen Illusion abholdes Abbild der Wirklichkeit, was ebenfalls mit Hilfe der Gattung Film geschieht. Genau dasselbe tut Castorf, wobei er auch Elemente des absurden Theaters, des Theaters der Grausamkeit sowie des Dadaismus bemüht. Man merkt, dass ihm Namen wie Artaud, Beckett und Ionesco ein Begriff sind. Albernheiten und Absurditäten werden Tür und Tor geöffnet. Zunehmend fühlt man sich in einen Traum oder noch besser Alptraum versetzt. Dieses Stilgemisch, mit dem der Regisseur hier aufwartet, ist von großem Reiz. Zudem setzt er voll und ganz auf Dekonstruktion. Behände nimmt er die einzelnen Teile von Wagners Musikdrama auseinander, nur um sie dann umso genussvoller wieder zusammenzufügen. Daraus resultiert eine lose Reihe sequenzartig aufeinanderfolgender Bilder, die keinen Zusammenhang aufweisen. Hier haben wir es mit einem allgemeinen Stilprinzip von Castorfs Theater zu tun, das immer wieder überzeugt.

Günther Groissböck (Fasolt), Karl-Heinz Lehner (Fafner)

Insgesamt zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Iain Paterson war ein recht jung anmutender Wotan, dem er mit seinem gut sitzenden, tragfähigen und ausdrucksstarken Bariton großes Gewicht gab. Übertroffen wurde er von Albert Dohmen, der einen grandiosen Alberich sang. Was er mit edler Stimmkultur, markanter Diktion und großer Spiellust auf die Bühne brachte, war in hohem Maße beeindruckend. An dem Stimmsitz von Roberto Sacca s Loge ist zwar nichts auszusetzen, indes fehlte ihm für diese Rolle etwas das Stanima. Mit feuriger Darstellung und einem profunden, bestens fokussierten Mezzosopran zog Tanja Ariane Baumgartner alle Facetten der Fricka, die bei ihr in besten Händen war. Eine Glanzleistung erbrachte der voluminös und sehr gefühlvoll singende Günther Groissböck als Fasolt, den er auch ansprechend spielte. Auf seinen Bayreuther Wotan im Jahre 2020 kann man schon gespannt sein. Auch Karl-Heinz Lehner vermochte in der Rolle des Fafner mit profundem, gut verständlichem Bass für sich einzunehmen. Ebenfalls gut gefiel die stimmstarke Freia von Caroline Wenborne. Eine sowohl darstellerisch wie stimmlich – sie verfügt über eine überaus schöne, runde und tiefgründige Altstimme – ausgesprochen autoritäre Erda war Nadine Weissmann. Kraftvoll sang Markus Eiche den Donner. Eine Luxusbesetzung für den Froh stellte der voll und substanzreich singende Daniel Behle dar. Nichts auszusetzen gab es an den kräftig und gut gestützt singenden, dabei einen homogenen Gesamtklang bildenden Rheintöchtern von Alexandra Steiner (Woglinde), Stephanie Houtzeel (Wellgunde) und Wiebke Lehmkuhl (Flosshilde). Demgegenüber fiel der nicht gerade vorbildlich im Körper singende Mime von Andreas Conrad ab. Schauspielerisch war er besser.

Alexandra Steiner (Woglinde), Wiebke Lehmkuhl (Flosshilde), Stephanie Houtzeel (Wellgunde)

Bereits im zweiten Jahr stand Marek Janowski am Pult. 2016 hatte er das Dirigat von Kirill Petrenko übernommen. Dessen hohes Niveau vermochte er an diesem Abend nicht zu halten. Zu oft klafften das Bühnengeschehen und das Orchester der Bayreuther Festspiele auseinander. Zum Kitten benötigte Janowski dann oftmals eine beträchtliche Zeit, wodurch der Klangteppich unausgegoren wirkte. Die zahlreichen Buhrufe, die Janowski beim Schlussapplaus erhielt, waren unter diesen Umständen durchaus nachvollziehbar.

Fazit: Ein insgesamt beeindruckendes „Rheingold“, das den Besuch gelohnt hat!

Ludwig Steinbach, 30.8.2017

Die Bilder stammen von Enrico Nawrath