Besuchte Aufführung: 26.8.2017 (Premiere: 1.8.2017)
Im Arbeiter- und Bauerparadies…
Zu einem großen Erfolg gestaltete sich die Aufführung von Wagners „Siegfried“ in der Regie von Frank Castorf, dem Bühnenbild von Aleksandar Denic und den Kostümen von Adriana Braga Peretzki im Bayreuther Festspielhaus. Offenbar hat das Publikum die ursprünglich heiß umstrittene Inszenierung inzwischen akzeptiert. In den Schlussapplaus, der äußerst herzlich ausfiel, mischte sich kein einziger Buh-Ruf. Dabei war Castorf nach einer eher konventionell angehauchten, als große Oper gedeuteten „Walküre“ beim „Siegfried“ wieder ganz der Alte. Wie man es von ihm gewohnt ist, setzte er den Focus auf Destruktion und Provokation unter Einbeziehung absurder und grotesker Aspekte in einem collageartigen Ambiente. Einmal mehr ist ihm eine äußerst kurzweilige, viele neue Elemente aufweisende Regiearbeit zu bescheinigen, die sich zudem durch eine ausgezeichnete geistig-intellektuelle Durchdringung des Stoffes auszeichnete. Videos spielten wieder eine große Rolle.
Stefan Vinke (Siegfried), Andreas Conrad (Mime)
Das Bühnenbild wird von einer variierten Form des Mount Rushmore eingenommen. Die Urform des in Süd-Dakota aufragenden Bergmassivs zeigt die in Fels geschlagenen Köpfe der vier US-Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln. Hier sind es die Häupter der geistigen Väter des Kommunismus, die von erhobener Warte aus auf Mimes und Siegfrieds bereits aus dem „Rheingold“ bekannten Wohnwagen herabblicken. Man merkt, dass es Castorf nicht mehr darum geht, kapitalistische Auswüchse mit dem Erdöl als schwarzem Gold aufzuzeigen. Vielmehr befasst er sich nun nachhaltig mit den sozialistischen Aspekten der Handlung. Einen Bruch mit seinem in „Rheingold“ und „Walküre“ vorgeführten Konzept stellt dieser Ansatzpunkt indes nicht dar. Hier handelt es sich um eine logische und durchaus schlüssige Fortführung seiner an den ersten beiden Abenden gezeigten Konzeption. Auf diese wird durch eine Minol-Tankstelle auch noch Bezug genommen. Wenn man gleich Castorf das Geschäft mit dem Erdöl als signifikante Ausdrucksform des Kapitalismus ansieht, kann dieser Vorgehensweise des Regisseurs die Berechtigung nicht abgesprochen werden. Während „Rheingold“ und „Walküre“ noch von der Gier nach Gold und individuellem Reichtum bestimmt waren, geht es im „Siegfried“ um soziale Gerechtigkeit. Und genau das intendierte Wagner mit dem „Ring“. Erneut greift Castorf das Gedankengut des Komponisten auf und verankert es gekonnt in einer imposanten sozialistisch-kommunistischen Milieustudie. Mit deutlicher Sympathie für die untergegangene DDR schildert er das Aufeinanderprallen von alten und neuen Kräften.
Stefan Vinke (Siegfried), Andreas Conrad (Mime)
Starr und unbeirrbar wachen die in Stein gehauenen Kommunismusväter über die Verbreitung ihrer Ideologie. Dagegen stellt der von Denic sehr realistisch nachgebaute Berliner Alexanderplatz mit Weltenuhr, S- und U-Bahn-Station, Postzentrale und Kaufhaus ein Abbild des de facto existierenden Sozialismus der Zeit vor dem Mauerfall im Jahre 1989 dar. Mit Hilfe der Drehbühne kann zwischen den beiden Handlungsorten hin und her gewechselt werden. Die Bedeutung liegt auf der Hand: Die Theorie des Sozialismus wird mit ihrer praktischen Realisierbarkeit und den Widerständen konfrontiert, mit denen sie zu kämpfen hat. Das Wirken und das Wesen des faktischen Sozialismus in der ehemaligen DDR vor der Wende wird vorgeführt. Dessen theoretische Grundlagen sind in zahlreichen, wohl Mime gehörenden Büchern verankert, die von einem Siegfried hörigen stummen Haussklaven, der am Anfang auch den Bären mimt, immer wieder über die Bühne getragen werden. Ganz in dieses Schema fügt sich der Kapitalist Fafner ein. Sein berühmtes Postulat „Ich lieg und besitz“ kommt hier nicht zur Anwendung. In Castorfs Interpretation liegt er nicht nur faul und träge herum, sondern nutzt den Hort und die diesem immanenten Optionen aktiv. Einigen auf Shoppingtour befindlichen Animiermädchen erfüllt er jeden Wunsch. Eindringlich konfrontiert der Regisseur zudem das westdeutsche Konsum- und Gewinnstreben des Individuums mit der in der DDR angestrebten gleichmäßigen Verteilung der Wirtschaftsgüter auf alle Gesellschaftsmitglieder. Dieses Spannungsverhältnis macht einen großen Teil der Kraft von Castorfs gelungener Produktion aus. Dabei wird offenkundig, dass es dem ostdeutschen Volk an der Fähigkeit fehlt, um dem sich mit aller Macht seine Bahn brechenden neuen sozialistischen Weltentwurf zum Durchbruch zu verhelfen.
Stefan Vinke (Siegfried), Thomas J. Mayer (Wanderer)
Nimmt man Castorfs Ansatzpunkt einmal genau unter die Lupe, offenbaren sich bei allen Unterschieden auch wesentliche Übereinstimmungen der Denkweisen von Regisseur und Komponist. Der Bayreuther Meister stammte ja aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Er ist in Leipzig geboren und in Dresden aufgewachsen. Seine Liebe zu Feuerbach und seine ausgeprägte revolutionäre Gesinnung gehen mit Castorfs sozialistisch geprägter Komponente ganz konform. Das Regiekonzept baut mithin auf Wagners eigenen Ansichten auf. Man könnte es als werktreu bezeichnen, denn es trifft genau den Kern des „Ring“-Scherzos.
Stefan Vinke (Siegfried), Catherine Foster (Brünnhilde)
Dieser Ausgangspunkt findet in der Personenzeichnung einen trefflichen Ausdruck. Mime ist Trotzki nachempfunden. Ein Grund für Siegfrieds großen Hass auf seinen Ziehvater wird ebenfalls offenkundig: Des Rätsels Lösung heißt Missbrauch, der in Siegfried schon als Kind eine starke Psychose ausgelöst hat, die in das fast schon kriminell zu nennende Wesen des erwachsenen Mannes mündet. Wotans Enkel wird von Castorf als kaltblütiger, moral- und gewissenloser Asozialer vorgeführt, der sich in keiner Weise darüber bewusst ist, was Gut und Böse ist. Die Regeln des menschlichen Miteinanders sind ihm fremd. Er hat sich zu einem ausgemachten Anarchisten mit den Zügen von Andreas Baader entwickelt und sich die Werte der RAF zu eigen gemacht. Hier spielt auch Sigmund Freud eine wesentliche Rolle. Es entspricht der Lehre von der Triebtheorie, dass das vormalige Opfer Siegfried später selbst zu einem der Rockerszene angehörenden Täter mutiert, der den aus der U-Bahn-Station des Alexanderplatzes herauskommenden Fafner lautstark mit einer Kalaschnikow um die Ecke bringt. Diese hatte er sich zuvor bei den Schwert- und Schmiedeliedern aus einzelnen Bestandteilen zusammenmontiert. Am Ende des zweiten Aufzuges ersticht er voll bewusst und dabei gänzlich emotionslos Mime mit einem simplen Taschenmesser. An Wissen, das ja bekanntlich Macht ist, hat Siegfried kein Interesse. In welchem politischen System er lebt, ist ihm ebenfalls total gleichgültig. Viel lieber wühlt er zusammen mit dem Waldvogel-Mädchen im Zivilisationsmüll des Alexanderplatzes herum, um dort ein geeignetes Instrument zur Konversation mit der hübschen Maid zu finden.
Catherine Foster (Brünnhilde)
Diese versteht der Regisseur als gleichsam dem Friedrichspalast entsprungene, schillernd bunt gekleidete Revue-Tänzerin. Obendrein arbeitet sie als Prostituiere im Bordell der Edel-Puffmutter Erda, der sie während des Vorspiels zum dritten Aufzug beim Aussuchen der passenden Perücke für ihr Rendezvous mit Wotan in einem italienischen Restaurant hilft. Am Ende seiner Aussprache mit der Ur-Wala wird der Gott zum Zechpreller – ein köstlicher Regieeinfall. Kindlich einfältig nähern sich Siegfried und die Waldvogel-Frau einander an. Hier haben wir es mit zwei einsamen jungen Menschen zu tun, die übermütig durch eine Pfütze patschen und sich mit Wasser bespritzen. Zu guter letzt haben sie sogar noch Sex miteinander. Psychologisch gesehen ist diese Idee zwar durchaus nachvollziehbar, mit Blick auf die Dramaturgie der Schlussszene des dritten Aufzuges vermag sie aber nicht zu überzeugen. Diese wird praktisch ad absurdum geführt, wenn Siegfried bereits vor Brünnhilde eine Frau zu sehen bekommt und sogar mit ihr schläft. Ebenfalls nicht logisch ist, warum er vor dem Sex mit der ehemaligen Walküre Furcht verspürt, vor dem mit der Vogel-Maid aber nicht. Auf der anderen Seite wirkt das psychologische Verfahren, mit dem Castorf die Angst des neuen hohen Paares vor der geschlechtlichen Vereinigung aufzeigt, recht gelungen. Auf den ersten Blick mutet die in den letzten Minuten des Musikdramas hereinkriechende große Krokodilfamilie – fünf große und zwei kleine Krokodile – absurd und grotesk an. Verständlich wird dieses Bild erst, wenn man es von der psychologischen Warte aus betrachtet. Krokodile stellen nach Sigmund Freud die Angst des Menschen vor seinem erwachenden Geschlechtstrieb dar. Und genau das ist ja das Thema dieser vergnüglichen Szene. Erheiternd ist auch das Bild, in dem Brünnhilde einem der Krokodile mit einem Sonnenschirm im wahrsten Sinn des Wortes das Maul stopft. Das Siegfried folgende Waldvogel-Mädchen wird von diesem im letzten Augenblick aus dem Rachen eines der gefährlichen Tiere gerettet. Am Schluss pendelt Siegfried unsicher zwischen Brünnhilde und der Vogel-Frau hin und her, entscheidet sich dann aber für die Wotan-Tochter.
Thomas J. Mayer (Wanderer ), Nadine Weissmann (Erda)
Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. Es ist schon erstaunlich, wie gut sich Stefan Vinke in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Er singt jetzt um einiges tiefgründiger und insbesondere in der Höhe besser im Körper als früher. Konditionsstark und mit enormer Ausdrucksintensität stürzte er sich in die Rolle des Siegfried, deren Bewältigung ihm nicht die geringsten Probleme bereitete. Auch darstellerisch wurde er seinem Part voll gerecht. Eine schauspielerische Glanzleistung erbrachte Andreas Conrad als Mime. Vokal machte er aus der Partie keine herkömmliche Charakterstudie, sondern setzte auf ebenmäßigen Schöngesang. Schade, dass er größtenteils ziemlich dünnstimmig klang. Nur in der Tiefe – beispielsweise bei „Fafner, der wilde Wurm, lagert im finst’ren Wald“ – saß sein Tenor hervorragend im Körper. Schade, dass er diese Klangqualität nicht in die höhere Lage übertragen hat. Mit wunderbarer italienisch geschulter Stimmführung, ebenmäßiger Linienführung und edlem Timbre stattete Thomas J. Mayer den Wanderer aus, den er auch überzeugend spielte. Ein markanter, stimmkräftiger Alberich war Albert Dohmen. Einen imposanten Bass brachte Karl-Heinz Lehner für den Fafner mit. Mit einer pastosen, wohlklingenden Altstimme stattete Nadine Weissmann die Erda aus. In der Partie der Brünnhilde begeisterte erneut Catherine Foster. Sie setzte nicht nur auf pure Stimmkraft und hochdramatischen Aplomb, sondern schenkte ihre Aufmerksamkeit auch den vielen Zwischentönen und leisen Stellen. Die hohe Tessitura der Rolle machte ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten. Eine Glanzleistung erbrachte auch Ana Durlovski von der Stuttgarter Staatsoper, die mit glanzvollem, bestens fokussiertem, farbenreichem und höhensicherem lyrischen Sopran einen Waldvogel der Sonderklasse gab.
Ana Durlovski (Waldvogel) und die Krokodile
Im Mysthischen Abgrund hatte Marek Janowski das gut aufgelegte Bayreuther Festspielorchester bestens im Griff. Er erzeugte zusammen mit den Musikern nicht etwa einen pompösen Klangteppich, sondern ließ Wagners herrliche Musik in all ihrer Vielseitigkeit und -schichtigkeit ertönen, wobei er sehr differenziert vorging. Wo es ihm angebracht schien, legte er sich lautstärkemäßig ganz schön ins Zeug. So atmeten beispielsweise die Schwert- und Schmiedelieder und insbesondere das Zwischenspiel im dritten Aufzug große dramatische Wucht. Sensibler und in schönen Pianotönen erklang dagegen das Waldweben. Insgesamt entlockte er den Musikern viele Nuancen. Der große Beifall, den er beim Schlussapplaus erntete, war durchaus verdient.
Fazit: Eine immer wieder sehenswerte Inszenierung, die auch musikalisch und gesanglich für sich einzunehmen wusste.
Ludwig Steinbach, 30.8.2017
Die Bilder stammen von Enrico Nawrath.