Festspielpark, 29.7.-25.8. 2021
"Des Seiles Fäden find ich nicht mehr; verflochten ist das Geflecht." War es diese Stelle aus der Nornen-Szene der Götterdämmerung, die Chiharu Shiota den Auftrag verschaffte, für die Festspiele eine Installation im Festspielpark herzustellen?
Wagner sprach in Zusammenhang mit dem Vorspiel der Götterdämmerung vom „Weltenschicksal-Gespinst“ – mit Gespinsten kennt sich die Künstlerin von jeher aus, ja: Sie sind das Markenzeichen Shiotas. Wer Shiotas Arbeiten kennt, weiß, dass ihn Erlebnisse erwarten, die vom Material geradezu provoziert werden, gleich, ob es sich dabei um tiefschwarze oder um blutrote Wollwebereien handelt, die sich um die verschiedensten Objekte hüllen. Was dabei herauskommt, wenn Installation auf Oper trifft, konnten die Zuschauer bereits 2017 bis 2019 am Theater Kiel beobachten, denn, um auf das „Geflecht“ zurückzukommen, mit dem Ring des Nibelungen hatte sie bereits damals zu tun. Ausstattungskunst und Bühne, Szene und Installation kamen damals hautnah zusammen, und natürlich war die Szene der Nornen und ihres Seils eine ideale Steilvorlage für die Künstlerin. Vermutlich hatten die Kieler damals die Idee, die Japanerin zu engagieren, weil sie angesichts des Nornenseils einfach zu nahe liegend war, um ignoriert zu werden, doch beschränkten sich Shiotas Webkünste nicht auf die eine Szene. Fast alle Bühnenräume dieses Ring waren erfüllt von ihren beeindruckenden Geweben – bis zu den Drahtgebilden der Körper der Riesen und Granes, bis zu Fafners schwarzem Wald und Brünnhildes feuerrotem Felsen. Erst mit der Welt der Gibichungen verschwand das Naturmaterial aus der Szene.
Nun also vollendet sich der Bayreuther Ring 20.21 mit einer Arbeit Shiotas, in der denn doch der Wollfaden das wesentliche Element ist. Des Seiles Fäden finden sich bei den riesigen Ringen, die sie umschlingen. „Die rote Skulptur“, sagte Shiota, „verkörpert die Akkumulation von Beziehungen zueinander. Diese Verbindungen dehnen sich in Zeit und Raum aus, während die Einfachheit des Rings die Einheit, Unendlichkeit und Ewigkeit symbolisiert“. Hat die Skulptur auch natürliche Grenzen, sind die Laufmeter der Fäden auch abzählbar, scheinen sich die Räume, die sich durch die Verschlingungen und Ringe bilden, doch in eine Unendlichkeit zu öffnen, die den Ring des Nibelungen bis heute auszeichnet: bis hin zu Skulpturen und Installationen, die ihn quasi philosophisch weiterdenken. „Der Faden kann eng sein, sich verstricken, zuammenziehen oder dehnen, genau wie menschliche Beziehungen“ – dazwischen und dahinter liegen die Räume, in denen die menschlichen Dramen stattfinden: bisweilen sichtbar, manchmal heimlich. Während die Konstruktion des Fadenwerks nicht völlig willkürlich laufen kann, aber von der Fantasie der Fadenwirkerin abhängt, darf der Betrachter an das Wiederspiel von „Bestimmung und Schicksal, freiem Willen und Kontrolle“ denken – die Frage, ob das Seil, das die Nornen im Vorspiel der Götterdämmerung halten, wirklich reißen muss, ob sich also, wie Shiota sich fragt, Brünnhildes und Siegfrieds Schicksal unaufhaltsam ist und endlich im Blut des Todes endet, wird genau von diesen Gegensätzen berührt. Leben und Tod gehören zusammen, für Shiota sind es die wesentlichen Themen ihrer Arbeit wie auch des Schlussstücks der Tetralogie, doch auch die Liebe. Ist die Liebe das Schicksal des scheiternden Paars? Die Ringe, die Chiharu Shiota mit einem roten Fadennetz verbunden hat, weisen auch auf das Feuer hin, das im Brande Walhalls und der Gibichungenhalle, dieser Repräsentanz der korrupten Menschenwelt, die Götterburg und die Erde von jenen Mächten säubern soll, die die Liebe bedrohen.
Rot ist auch die Hauptfarbe einer anderen Produktion dieses Ring 20.21. Betrachtet man Chiharu Shiotas und Hermanns Nitschs Bayreuther Arbeiten von dieser Perspektive aus, bilden sie ein eigenes farbkünstlerisches Gegengewicht zu den beiden anderen, theatralischen Arbeiten. Zusammen aber ergeben sie einen Ring, der deshalb so rund ist, weil die einzelnen Abende, Vormittage, Kurznachmittage, Tage und Nächte mit Loge, der Malaktion, dem Drachenkampf und dem Fadenkunstwerk denkbar verschieden ausfielen. So gesehen ist nichts so schlecht, dass es nicht für irgend etwas gut ist. Corona hat schließlich dafür gesorgt, dass einige originelle und schöpferische Künstler der Gegenwart für Bayreuth arbeiteten, die ansonsten wohl kaum auf und am Hügel in Erscheinung getreten wären.
Frank Piontek, 29.7. 2021
Foto: ©Frank Piontek