Die Laufenberg Inszenierung verabschiedet sich
Erlösung in Sicht?
Nach der vierten Spielzeit verabschiedet sich Uwe Eric Laufenberg mit seinem „Parsifal“ von der Bayreuther Festspielgemeinde. Die Inszenierung, in der der Regisseur Krieg, Terror und Flüchtlingselend bildkräftig und symbolstark auf die Bühne des „Grünen Hügels“ bringt, hat auch im Sommer 2019 leider nichts von ihrer Aktualität verloren, ganz im Gegenteil.
Eine Welt, in der sich die „Sea-Watch“-Kapitänin Carola Rackete für scheinbar selbstverständliche Menschlichkeit vor einem italienischen Gericht verantworten muß, schreit nach mehr als nur Rettungsschiffen – daß die „Open Arms“ zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen nach knapp dreiwöchiger Odyssee am 21. August auf Lampedusa anlanden darf, läßt zwar die Flüchtlinge an Bord jubeln, sollte aber den Ländern Europas die Schamesröte in die neo-nationalstaatlichen Gesichter treiben. Mitarbeiter deutscher Behörden, die immer noch gut integrierte Afghanen in das angeblich sichere Kabul abschieben, sind gut beraten, sich die entsetzlichen Bilder nach dem Selbstmordattentat auf eine Hochzeitsgesellschaft am 17. August in der afghanischen Hauptstadt vor Augen und Herzen zu halten.
Die Betonung christlicher Werte gerät gerade vor diesem Hintergrund zur polarisierenden Heuchelei, wenn die patriotischen Retter des Abendlandes Islamismus mit Islam gleichsetzen und vergessen, daß der Krieg in Syrien die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln, vulgo: ein Stellvertreterkrieg, ist.
Ist der Schwenk nach Bayreuth an dieser Stelle legitim? Aus zwei Gründen sicherlich: Wagners „Ring“ ist durchdrungen von Kapitalismus- und Machtkritik, sein politisches Engagement war weit mehr als eine Jugendsünde, auch wenn der reaktionäre Teil der Rezeption das gerne so sieht und damit herabmindert. Sein „Weltabschiedswerk“, der „Parsifal“, stellt schon allein im Rückgriff auf buddhistische Aspekte bewußt überchristlich religiöse Grundfragen. Ebendiese greift Laufenberg ungemein vielschichtig auf und verbindet sie organisch mit dem aktuellen politischen Geschehen.
Der Regisseur konnte sich in den Kritiken von 2016 bis jetzt einiges anhören, von den Vorwürfen der Islamfeindlichkeit, über die dramaturgische Pervertierung des Abendmahls bis zur Oberflächlichkeit und Albernheit. All diese Stimmen haben die Inszenierung nicht verstanden, haben nicht, um mit Gustav Mahler zu sprechen, das wahrgenommen, was „nicht in den Noten“ steht.
Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick empfand Laufenbergs Inszenierung als „für einen Christen anstößig“ und warf dem Regisseur vor, nicht im Sinne Wagners gehandelt zu haben.
Es ist immer recht einfach, wenn man scheinbar eindeutige Gedanken und Haltungen von Künstlern annimmt und diese dann für eigene Positionen instrumentalisiert. Hier lohnt ein Blick auf des Meisters ausgesprochen differenzierte Religiosität, wobei man bei Wagner zusätzlich immer auf Widersprüchliches gefaßt sein darf. Tatsächlich spricht er mal vom „gift der religion“, an anderer Stelle bringt er seine Freude zum Ausdruck, „so hartnäckig auf dem christlichen Standpunkte gestanden zu haben“. Auf den Vorwurf spiritueller Beliebigkeit hätte Wagner sicher mit Eva aus den „Meistersingern“ entgegnet: „Hier gilt´s der Kunst!“, denn, wie Claus Dieter Osthövener („Erlösung“, 2004) so deutlich herausgearbeitet hat, war Wagner bzw. seine Kunst exakt dann christlich, „wenn es dem jeweils zur Darstellung drängenden Gedanken diente.“
Das gilt vor allem für seine letzte Oper. Zu den zentralen Elementen Taufe und Abendmahl im „Parsifal“ gehört versöhnend und beschließend die Auferstehungshoffnung im Karfreitagszauber. Daß diese allerdings schon im er sten Aufzug thematisiert wird, scheint bislang noch zuwenig beachtet worden zu sein. „Treu bis zum Tod“ wollen die Gralsritter sein, wenn sie den Leib Christi zu sich nehmen, um ihn „kühn zu Leibes Kraft und Stärke“ zu wandeln – die Wandlung wird hier also durch den Gläubigen selbst vorgenommen, was einen subjektivierten Protestantismus durchscheinen läßt. Diese Treue in der Assoziation mit den Worten „kühn“ und „fest“ in der Textstelle „fest jedem Mühn, zu wirken des Heilands Werke!“ erscheint martialisch-männerbündlerisch, verweist aber auch auf die Johannesoffenbarung, 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Es geht hier also weniger um religiösen Kadavergehorsam, als vielmehr um die Hoffnung auf das ewige Leben. Wagner ist der Meister der Mehrschichtigkeit und das hat Laufenberg im Innersten begriffen.
Dieser „Parsifal“ ist voller Geniestreiche, deren einer die völlig neuartige Darstellung der Schwanenszene ist. An die Schwanentötung hat man sich dermaßen gewöhnt, daß nur derjenige Mitleid mit dem armen Tier hat, der die Oper zum ersten Mal sieht. Das hier von Wagner thematisierte hinduistisch-buddhistische Prinzip des Ahimsa, also der religiös-sittlich begründeten Gewaltlosigkeit, hat nach 137 Jahren „Parsifal“ spürbar an Brisanz verloren und ist nicht anrührender als sänge man „Der Schwan ist tot, der Schwan ist tot“.
In Kombination mit dem tot zusammenbrechenden Flüchtlingskind aber wird klar, daß es hier um echte Opfer von Krieg und Flucht geht. Der Tumbetor – Andreas Schager spielt ihn ebenso treffend naiv wie er auch sängerisch jede Entwicklungsphase des Titelhelden differenziert darstellt – hat eben nicht irgendeinen Vogel abgeschossen, sondern ein Verbrechen begangen. Daran läßt ein vom ersten Ton an großartig präsenter und strenger Günther Groissböck als Gurnemanz keinen Zweifel. Während die Gralsritter nur zetern, zeigt Kundry, die den Jungen in die Arme nimmt, Trauer und vor allem wahres Mitleid – darum geht es zentral im „Parsifal“. Wer bei dieser Szene nicht weich wird, ist ein grober Klotz. Und wer von den Kritikern immer noch nicht begriffen hat, daß hier dem ertrunkenen Flüchtlingskind Aylan Kurdi eine bestürzende Memoria gewidmet wird, dem ist nicht zu helfen.
Zu Herzen geht auch, wenn die Gralsritter – im phantastischen Chor unübertroffen präzise, drängend und aggressiv – den geplagten Amfortas anzapfen, ja ihn sakral ausmelken. Ryan McKinny stöhnt so authentisch leidend, wenn ihm das Messer in die Seitenwunde gestoßen wird, daß man ihm tiefsten Schmerz abnimmt. Das Bild des nahezu ausblutenden Christus/Gralskönigs macht deutlich, wie die mittelalterlichen Darstellungen von Jesus als Schmerzensmann auf die Gläubigen gewirkt haben mögen. Das ist kein inflationäres Blutvergießen, man empfindet Fremdschämen für die blutgierige Gemeinschaft. Und eben aufrichtiges Mitleid mit Amfortas. Laufenberg wäre so oberflächlich, wie ihm mitunter vorgeworfen wurde, wenn er die von Klingsor als „Rittergezücht“ beschimpfte Versammlung allein unsympathisch und oberflächlich dargestellt hätte. „Jesus ‚runter vom Kreuz und wieder ‚ran ans Kreuz“ – so einfach ist das nicht. Die mönchischen Krieger nehmen Christus leiblich ernst und wickeln die Figur wie einen Leichnam vorsichtig in ein Laken – angebetet wird anschließend durch das Kreuz als Symbol das, was über den Gekreuzigten hinausgeht.
Schlichtweg genial ist die endlich einmal gelungene Verarbeitung des Satzes „Zum Raum wird hier die Zeit“, über den man hätte trefflich mit Einstein oder Heisenberg diskutieren können. Der Flug ins All und zurück als Videoprojektion dürfte als einer der intelligentesten Einfälle zu dieser immer noch vielfach deutbaren Textstelle in die Dramaturgiegeschichte eingehen. Das ist der Schwenk vom Grünen Hügel/der Gralsburg in die große Politik und an die Grenzen des Begreifbaren. Deswegen funktioniert diese Inszenierung auch so gut.
Mißverstanden wurde auch der Klingsor-Aufzug und es war von vornherein abzusehen, daß die Kritiker sich vor allem auf das verschwindende Detail des Penis-Kreuzes stürzen würden. Das ist ebenso platt wie die Reduktion von Darwins Theorien auf den nicht einmal korrekt wiedergegebenen Satz, daß der Mensch vom Affen abstamme. Dieser Klingsor ist zerrissen, suchend, planlos, was Derek Welton absolut glaubhaft vermittelt. Er haßt alle anderen und sich selbst. Und nein – er ist kein Muslim. Laufenbergs Klingsor schwankt zwischen aus mangelnder Identität geborenem Fundamentalismus und dem Sammeln von Trophäen seiner Gegner. Seine Mittel sind dementsprechend durchschaubar: die Blumenmädchen sind erst dann wirklich verführerisch und überraschend, wenn sie ihre wahre Gestalt zeigen und das tun sie durch das Ablegen des Niqab und die Verwandlung in viele bezaubernde Jeannies. Nachdem sie den Toren seiner Kleider entledigt haben – der Sänger hat am Ende tatsächlich scheinbar nichts mehr an, was aber mit feiner Diskretion auf die Bühne gebracht wird – versuchen sie ihn im Bassin des Hamam auf die schiefe Bahn zu bringen. Nebenbei: Kaum einem dürfte das Wortspiel der Verwandlung vom „Haram“ zum „Hamam“ aufgefallen sein. Der verbotene Bereich wird von Parsifal geknackt und im Zusammenspiel mit den Mädchen verwandelt, wie sich eben alles stetig wandelt im Stück und in der Inszenierung. Wenn ein Kritiker nicht versteht, was die Kreuzessammlung im Hamam soll, dann empfiehlt sich genaue Inaugenscheinnahme. Der unter Kontrollzwang leidende Zauberer steht mit seinen Trophäen über dem als Falle gedachten Verführungsbereich wie ein unseriöser Kapitän auf der Brücke eines zum Sinken verurteilten Seelenfängers.
Hier folgt ein weiterer Geniestreich der Regie: eine vor allem in diesem Aufzug überzeugend jugendlich-lyrisch frisch strahlende Elena Pankratova als Kundry tauft Parsifal – sie nennt ihn nicht nur beim Namen (Jesaja 43,1 – „ich habe dich bei deinem Namen gerufen“), sondern hebt ihn gleichsam aus dem Taufbecken. Das tut sie unbewußt und bereitet so ihre Aufnahme in die christliche Gemeinschaft im dritten Aufzug vor. Das Element des Unbewußten ist ein genuin Wagnerisches – man hätte hier nicht treffender inszenieren können.
Der Gesamtkunstwerkler hätte uns sicher um unsere filmischen Möglichkeiten beneidet. Das Bild des von Klingsor geschleuderten Speeres, der über Parsifals Haupt schwebend zum Stehen kommt, kann man eigentlich nur im Trickfilm bzw. in der Computeranimation darstellen. Hier aber passiert etwas ganz anderes: Parsifal nimmt dem Zauberer die Waffe einfach aus der Hand, bricht gleichsam den Stab über ihn und macht die Lanze zum Kreuz.
Dieses Kreuz ist ein wahres, ein wirkmächtiges Kreuz, da es aus einer Berührungsreliquie besteht – die gewandelte Lanze hat ebenso unbarmherzig in Christi Seite gesteckt wie der Dolch bei Amfortas im ersten Aufzug. Die anderen Kruzifixe aus Klingsors Sammelbude fallen herab, da sie eben nur inhaltslose Trophäen und durch inflationären Gebrauch wertlos gewordene Symbole sind. Auch das hat die Kritik vielfach nicht verstanden.
Nicht minder gilt das für den dritten Aufzug mit den übergroßen, durch die Ruine gewachsenen Pflanzen und der bewußt überzeichneten Paradiesszene im Hintergrund. Die Natur ist groß, größer als die wie Käfer scheinenden Menschen, und wird diese überdauern. Auch ihre Vorstellungen vom Paradies. Da darf man gerne ein bißchen mit Rousseau spielen und zwar mit dem Philosophen wie mit dem Maler. Zudem erinnert die Szene deutlich an Max Brückners Gemälde „Klingsors Zaubergarten“ nach dem Entwurf von Paul von Joukowsky zur Bayreuther Erstaufführung 1882, mit dem Unterschied, daß hier nicht Klingsors fauler Zauber am Werk ist, sondern sich die Natur unbeirrt ihren paradiesischen, überreligiösen Weg bahnt.
Laufenberg hat Wagners Einladung zum Werkstattheater angenommen und immer wieder an der Inszenierung gefeilt. In der Videoprojektion, die den Weg zur Gralsburg begleitet, hat Laufenberg diesmal in die fallenden Strukturen, die als Wasser oder auch verrinnender Sand im ganz großen Stundenglas gedeutet werden können, die Gesichter von Winifred und Wolfgang, schließlich die Totenmaske Richard Wagners eingeblendet. Winifred („auch eine Kundry“, wie der Regisseur im persönlichen Gespräch meinte), das tiefbraune Führerliebchen, der halsstarrige, kompromißlose Wolfgang und der Meister selbst, der es immer wieder schafft, daß man seine ekelhaften, aus den Komplexen eines in mancherlei Hinsicht zu kleinen Mannes resultierenden Auslassungen über die Juden beim Genießen seiner Musik stets temporär vergißt – sie alle sind schon jenseits von Gut und Fascho-Böse.
Hätte Wagner seine geplante Buddha-Oper „Die Sieger“ realisiert, hätte wahrscheinlich die ganze Rezeption ein anderes Gesicht bekommen. Aber dafür leitet Laufenberg am Ende die Erfüllung von Wagners Nirwana-Erlösungs-Sehnsucht ein. „Kinder, macht Neues!“, ist eines der sympathischsten Zitate des Meisters und so wird hier sein Beleuchtungsprogramm einmal umgedreht. Es war ihm ein wesentliches Anliegen, das Licht im Zuschauerraum so zu dämpfen, daß sich das Publikum allein auf das Bühnengeschehen konzentrieren konnte. Eröffnet wird dies durch das Ablegen der unterschiedlichen religiösen Symbole in den Sarg Titurels, der nur noch Staub oder den Sand des ganz großen Stundenglases enthält. Wohlgemerkt: die Symbole werden entsorgt, nicht die Religion oder das Göttliche an sich. Das gilt auch für das Kreuz aus der Heiligen Lanze – so stark es Klingsor niedergerungen hat, es wandelte sich auf dem Wege zu Parsifals Wander- oder Pilgerstab und schließlich zum bloßen Symbol.
Aus dem Bühnenhintergrund nun erstrahlt Licht durch den Gralstempel, das wie warmes Tageslicht wirkt. Dieses Licht wird von der Beleuchtung des Festspielhauses aufgenommen, verbindet den einen Tempel mit dem anderen und umarmt das Publikum zu einer unio mystica. Nun darf assoziiert und selber gedacht werden: „es werde Licht!“, das Licht der Welt als Christusmetapher, das Licht der Aufklärung? Vor diesem großartigen Einfall wirkt die früher so gerne verwendete Taube am Bindfaden wie ein Schießbudenvogel.
Flache Lösungen im Sinne eines christlichen Mainstreams vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über Religionen, Extremismus und Terror wären oberflächliche Angebote in solch einer vielschichtigen und intelligenten Inszenierung gewesen. Dann hätte Laufenberg auch eine – ebenfalls fast immer nicht wirklich verstandene – deutsche Lieblingsikone wie Caspar David Friedrichs „Kreuz im Gebirge“ als Schlußbild verwenden können.
Es steht dem Zuschauer nun frei, wie er mit diesem lichten Moment umgeht. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong nennt einen „mystischen Agnostizismus“ als mögliches Modell einer religiösen Offenheit, die aber ein dogmatisches Selbstvertrauen verhindern kann. Laufenberg läßt aber auch einen anderen Schluß zu: Gott ist groß. Größer als jede Religion.
Andreas Ströbl, 23.8.2019
Bilder (c) Enrico Nawrath