Bayreuth: „Parsifal“, Richard Wagner

100 Jahre „Zauberberg! Was für eine wundervolle Idee, vom Sanatorium „Berghof“ in Davos, zum Jubiläum eine Delegation der Lungenkranken-Station nach Bayreuth zu entsenden, um das seelenvolle Parsifal-Vorspiel mit keuchenden Geräuschen aus dem Siechenhaus zu bereichern! Nein, Thomas Mann wäre nicht amüsiert gewesen, und einen störenden Klingelton hätte selbst ein schreibender Visionär nicht vorausahnen mögen. Doch lassen wir die Publikumsschelte – es waren offenbar viele Neulinge am 27. Juli auf dem Grünen Hügel, um den Parsifal in der Inszenierung von Jay Scheib mit Beifall bereits nach dem heiligen 1. Akt zu bedenken…

Kenner der Produktion aus dem vergangenen Jahr waren gespannt, was in der Werkstatt Bayreuth an diesem Parsifal an dem durch die „Augmented Reality“-Brillen angereicherten Bühnenerlebnis geschraubt und gewerkelt würde.

Um es gleich vorweg zu sagen: Weniger wäre auch diesmal mehr gewesen und diejenigen, die zuerst bedauerten, keine Brille ergattert zu haben, konnten sich dem realen Geschehen deutlich besser widmen. Daher teilt sich diese Besprechung in zwei unterschiedliche Wahrnehmungen, „mit“ und „ohne“.

© Enrico Nawrath

Joshua Higgason und seine Mitarbeiter haben einiges von den visuellen Effekten reduziert, wie die störenden Bäume in der Parsifal-Kundry-Szene (man übersieht mit der AR-Brille dann doch zu viel von Mimi Liens farbenfroher Bühne und den bunten Kostümen von Meentje Nielsen), aber es gab auch Zusätze wie einen Hasen mit Heiligenschein und einen Fuchs, durchbohrt von einem riesigen Speer. Manche übermäßige Pixeligkeit wurde geglättet, aber nach wie vor gibt es reichlich Unebenheiten, Moiré-Effekte und einfach viel zu viele Objekte, Tiere und Symbole ohne Bezug zum Bühnengeschehen oder inhaltliche Tragkraft; es bleibt eine semantische Unschärfe und eine semiotische Inflation. Klar, Higgason wollte sich dem Vorwurf der Plattheit entziehen und hat daher direkte Bezüge oft vermieden.

Wenn man aber schon brennende Dornbüsche gezeigt bekommt, dann fragt man sich nach der inhaltlichen Nähe zum mosaischen Gesetz, und beim leitmotivischen Erscheinen von Füchsen als herumlaufende ganze Tiere oder nur deren Skelett bleibt offen, ob diese Tiere die geschundene Natur darstellen sollen oder typisch „füchsische“ Eigenschaften zitiert werden.

Zahlreiche kieferklappernde Schädel, bei denen sich auch der ganze Hirnschädel zuweilen abhebt, sind natürlich Todessymbole, aber das hat man auch schon beim einmaligen Auftauchen kapiert. Weshalb erscheint gerade zur sündenschweren Szene in Klingsors Garten eine keusche Lilie? Und soll der dem bösen Zauberer entwundenen und dann auf den einzelnen Zuschauer gerichtete Speer uns mitteilen, daß wir alle schuldig sind und der Erlösung bedürfen? „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen/den Vorhang zu und alle Fragen offen“, frei nach Bertolt Brecht „Es hat etwas unfertiges“, entfuhr es einem Hügel-Neuling. Nein, ganz so arg ist es auch nicht, diese neue Technik muß und wird reifen.

© Enrico Nawrath

Nun die andere Perspektive: Nach den Brillen-Erfahrungen des letzten Jahres war es regelrecht wohltuend, sich der Inszenierung pur widmen zu können. Ob man nun mit der Problematik des Kobaltabbaus und der beklagenswerten Umweltverschmutzung, dem Grundthema der Regie, mitgeht oder nicht, scheint unerheblich. Ohne Brille, ohne z. B. die Armada der herumfliegenden Mülltüten im dritten Akt und die doch erhebliche Verdunkelung der gesamten Bühne kann man sich auf eine überwiegend schlüssige und in einigen Momenten stark berührende Aufführung einlassen. Daß Gurnemanz das wunderbare Vorspiel zum 1. Akt als eben dieses mit einer Gefährtin, einem Kundry-Klon (?) nutzt, ist inhaltlich und geschmacklich fragwürdig, zumal diese Geschichte keine wirkliche Fortführung findet. Erst im Schlußbild finden die beiden dann wieder zueinander. Kann man machen, muß man aber nicht. Geradezu erschütternd dann die Szene während der Amfortas-Klage und dem Auftritt des greisen Titurel, in der die ganze furchtbare Verzweiflung des Königs und der unbedingte Lebenswille seines sich gegen den nahenden Tod aufbäumenden Vaters enorm berührte. Das Wühlen in des Königs Blut und das Verbinden der Wunde auf der großen Leinwand erinnerte etwas an Hermann Nitsch und sein „Orgien- und Mysterientheater“, aber diese Assoziation soll alles andere als despektierlich verstanden werden, denn es ging diesem Künstler, der 2021 die Walküre im doppelten Sinne untermalte, ja viel mehr um das Heilige, das Ritual und die Heilung als um den Skandal.

Im zweiten Akt begibt man sich dann zunächst in Barbies rosarote Welt mit einem optisch deutlich an einen medial bekannten Influencer angelehnten Klingsor. Die überreiche Genital-Aerobic dieses entmannten Zauberers, auch mit dem eigentümlich geknickten, heiligen Speer ist eine Spur zu viel; kann man machen, muß man aber nicht. Prachtvoll dann Barbies Garten mit großen bunten Blumen und knallfarbigen, überwiegend pinken Blumenmädchen. Was einem da mit der verdunkelten Brille alles entgeht….

Der dritte Akt schließlich bietet zunächst eine deprimierende Landschaft mit rostigem Fräslader und Schneidarm in einer kargen Umgebung. Und immer wieder das nun überdeutlich vom Kobaltabbau verseuchte Wasser, in dem gestanden und das durchwatet wird. Die Folgen der Rohstoffausbeutung treten nun überdeutlich hervor und nur die Zerstörung des Kobaltgrals durch den neuen König am Ende kann zur Erlösung aus diesem Elend führen.

© Enrico Nawrath

Diese Inszenierung lebt auch von der schönen Lichtgestaltung, die mit Brille allerdings stark an Wirkung verliert. Besonders die gut ausgeleuchteten Szenen bei den Gralsenthüllungen mit dem hängenden Lichterkranz sorgen für eine besondere Atmosphäre. Die Kostüme, naja, kann man mögen, muß man aber nicht. Besonders scheußlich ist die Kleidung der Kundry im dritten Akt mit häßlichem Polyesterpullover in schwarz-weiß und einem senfgelbem Knautschlederrock zu schwarzen Stiefeln. Ebenso unschön, nahezu albern die kurzen Hosen und Muscle-Shirts zu Socken und Sportschuhen zweier Knappen, eher Bademeister als Gralsangehörige. Der Rest steht unter dem Motto „nicht schön, aber selten“. Insgesamt ist es aber eine Inszenierung, die ihre großen und mitreißenden Momente in aussagekräftigen Bildern hat.

Musikalisch war es ein großartiger Abend. Das Festspielorchester unter Pablo Heras-Casado malte ein hingebungsvolles Klangbild und ließ Solistinnen und Solisten durchweg ausreichend stimmlichen Entfaltungsraum. Manchmal hätte es dynamisch durchaus noch etwas zulegen dürfen, aber sehr häufig gab es wunderbare Gänsehautmomente, wie bei der Verwandlungsmusik oder dem Karfreitagszauber, mit überwältigenden Blechbläsern. Die Tempi waren gleichermaßen zügig wie zurückgenommen, die Einsätze präzise, Generalpausen von spannungsaufbauender und geschmackvoller Länge.

Ausgesprochen machtvoll war der Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedrich mit phantastischer Diktion – man verstand jedes Wort dieser konsonantenverliebten Wiedergabe. Beeindruckend in der Brutalität forderte der Chor dann im dritten Akt die Enthüllung des Grals, verbunden mit einem Handgemenge mit Amfortas – zum Niederknien schauerlich.

Es war, wie so oft, der Abend des Georg Zeppenfeld, der souverän den Gurnemanz gab; der Mann ist einfach eine Bank. Bewundernswert, wie er diese so oft gesungene Partie immer wieder spannend und mitreißend gestaltete, jedes Wort war zu verstehen und das bei einer ungemein warmen, aber auch zu Ausbrüchen fähigen Stimme. Nach der kraftsaugenden Tristanpremiere zwei Tage zuvor war die spannende Frage, ob Andreas Schager nun schon wieder den Parsifal adäquat singen würde. Das konnte er, und wie! Ja, er kann auch piano singen, wunderbar anrührend und zärtlich sogar, aber auch strahlend im Forte. Seine Entwicklung vom torenhaften, nicht verstehenden Buben über den liebesverwirrten, doch widerstehenden jungen Mann zum gereiften Gralskönig in Ausdruck und Stimme war beeindruckend. Letztlich können beide Herren das sprichwörtliche Telefonbuch vorlesen und das Haus tobt, zu Recht!

© Enrico Nawrath

Tobias Kehrer als unerbittlicher Titurel mit machtvoll-durchdringendem Baß und enormer Wandlung vom halbtoten Greis mit Zauselfrisur zum wohlrasierten Jüngling nach dem Genuß des Gralsblutes überzeugte ebenso wie Derek Welton als von Schmerz geradezu zerrissener und sich gegen sein Schicksal aufbäumender Amfortas, der seine ganze Verzweiflung in eine mächtige Stimme packt. Die Kundry von Ekaterina Gubanova gurrte und verführte mit vollem, weichen und mächtigen Mezzo sowie vollem Körpereinsatz bis in die Mimik. Letztlich ist sie etwas mehr Mutter als Verführerin, ein letztes Quentchen Sinnlichkeit in der Stimme (und mehr Textverständlichkeit!) fehlte zur rundum perfekten Kundry. Jordan Shanahan sang in seinem pinken Anzug und High Heels einen bemerkenswert kernig-männlichen Klingsor, in dessen Stimme auch weiterhin gärende Wut über die Ablehnung der Gralsritter spürbar wurde.

Eben diese Ritter, Knappen und Blumenmädchen waren durchweg wohlklingend besetzt und ließen mitunter aufhorchen. Auch darstellerisch ließen sie nicht viel zu wünschen übrig. Bravi!

Wie als meteorologische Reminiszenz zum letzten Jahr gab es pünktlich zur ersten Pause einen kräftigen Regenguß, bei dem sich einige der Festspielgäste mit ihrem Getränk in den vorderen Eingangsbereich zurückzogen. Bis auf einen hysterisch unfreundlichen jungen Mann, der schon den Ordnungsdienst anrief, um die vermeintlichen Entweiher des Tempels nach draußen zu befördern, blieben die ohnehin stets freundlichen jungen Damen im Foyer entspannt. Die sind ja, wie die Besucher, auch manchmal angestrengt vom befohlenen Blick auf Karte und Ausweis, auch wenn man sich nun schon näher kennengelernt hat; sie werden aber niemals ungeduldig.

Alles in allem ein gelungener 3. Festspieltag, der mit Ovationen im Stehen gefeiert wurde. Zum Glück fängt´s gerade erst an!

Regina und Andreas Ströbl, 28. Juli 2024


Parsifal
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Inszenierung: Jay Scheib
Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado
Festspielorchester und -chor Bayreuth