Berlin: „Orlando“, Virginia Woolf

„Das war schon was Besonderes“, sagt die junge Frau zu ihrer Freundin, als sie den Saal verlassen. „Was Besonderes“ – und das in Berlin!

© Stephen Cummiskey

Tatächlich ist „es“ oder „er“ etwas Besonderes. „Orlando“, den berühmten Roman von Virginia Woolf, der vor dreissig Jahren durch eine Verfilmung noch bekannter wurde, als er schon ist, diesen weltbekannten Roman aufs Theater zu bringen: das wäre wenig originell, höchstens gewagt. Theaterstücke nach Romanen und Filmen zu machen: auch diese Idee ist inzwischen alles andere als bemerkenswert. Den „Orlando“ aber aufs Theater, aber recht eigentlich – und gleichzeitig – als Live-Spielfilm zu präsentieren: das ist wirklich etwas Besonderes. Dass die Inszenierung Katie Mitchells, die vor vier langen Jahren, kurz vor Corona, an der Schaubühne herauskam, immer noch in einem fast ausverkauften Haus gespielt wird, ist gleichfalls ausserhalb jeglicher Schnellebigkeit irgendwelcher tagesaktueller Erfolge.

Damit aber wären wir schon beim Thema: denn in Woolfs Roman geht es um ein wahrlich langes Leben, um Veränderungen in der Zeit und durch die Zeit, um Metamorphosen auch des Körpers; das Programmheft bringt neben Eigenaussagen der Autorin und ihrer Freundin Vita Sackville-West, der sie die ausdrücklich als „Biographie“ bezeichnete Romanfiktion widmete, Transgender-Texte. Wer sie nicht zur Kenntnis nimmt, hat schon einen grandiosen Abend – denn der in der elisabethanischen Epoche geborene und offenbar unsterbliche Orlando, der an einem schönen Barocktag im Körper einer Frau erwacht, erinnert nicht nur äußerlich an Tilda Swinton, die vor drei Jahrzehnten den Orlando (und etwa gleichzeitig und unvergesslich einen denkbar androgynen Mozart, damals im Herbbel-Theater, in Puschkins „Mozart und Salieri“) spielte. Jenny König spielt auch einen Orlando, dem/der bei der Zeitarbeit zuzuschauen ein einziges Vergnügen ist. Selbst ohne die besondere Technik, mit der am Abend der Film hergestellt wird, wäre diese „Orlando“-Version kein verlorener, sondern ein amüsanter Abend.

Man sieht also, immerzu staunend vor soviel Virtuosität und Vollkommenheit, nicht eigentlich ein Theaterstück, sondern einen Film. Video im Theater: das wirkt meist überflüssig, nervend, zerstreuend. Video im „Orlando“: das macht aus dem Stück erst das Stück. Denn alles, was wir uns zunächst auf der Bühne anschauen, dient nur dem einen Zweck: oben gleichzeitig einen Film entstehen zu lassen, der, zusammen mit den notwendigen Einspielern (Szenen in der Natur, im Auto, auf dem Eis und animierte Graphiken), einen Kinobesuch ersetzt. Schon schnell schaut der gebannte Zuschauer fast nur noch auf die Leinwand, wo Orlandos Geschichte in 110 äußerst kurzweiligen Minuten erzählt wird: als sähen wir ein cinematographisches Meisterstück, das in wochenlanger Arbeit im Studio entstand (die Proben zum Abend dürften etwa genau so lang gedauert haben).

„Veränderung“: das ist auch das Thema der kongenialen Musik- und Soundsphäre, die von Melanie Wilson geschaffen wurde. „Veränderung“: das meint keine logische und chronologisch stimmige Abfolge von Stilen, sondern ein Ineinander von Zitaten und Klangräumen, die der Diskontinuität gehorchen, die auch das Signum der Inszenierung ist. Wo die Logik einer Mann-und-Frau-Dichotomie aufgegeben wird, läuft auch der Tonstrang durch die Zeiten und Räume: so wie Orlando, der/die sich nicht einfach in einer Zeit zurechtzufinden vermag, weil er/sie zur Zeit der Queen Elizabeth zuerst gelebt hat. Es beginnt also mit einem sehr hohen Ton, Streicher treten hinzu, die immer wieder die Grundlage des fast pausenlosen „Scores“ garantieren – doch schüttet Wilson ihre Musik und ihre Klänge nicht wie eine der berühmt-berüchtigten Saucen über die Protagonisten aus.

© Stephen Cummiskey

Sie erfreut den Hörer mit immer wieder neuen Stilarten, bringt Naturtöne und Originalklänge – Vogelgezwitscher und Jagdhörner – in die eingespielten Szenen und lässt den Hörer zunächst im Glauben, es mit einer konventionellen Filmmusik zu tun zu haben. Die Stile wechseln wie die Zeiten, doch paradox. Wird Orlando von einem Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts gevögelt, hören wir den traurigen Blues der Bessie Smith. Wir sind noch längst nicht im 20. Jahrhundert angelangt, als ein Bruchstück eines französischen Popsongs der 60er Jahre in unsere Ohren dringt; tanzt die Upper Class von 1770 ab, sehen wir in eine Disco – und hören künstlerisch aufgestatzte Discomusik des frühen 21. Jahrhunderts. Zumindest dies erinnert an den Soundtrack, den Dustin O’Halloran 2006 der Maria Antoinette in Sofia Coppolas Verfilmung des Partylebens der französischen Königin angeschneidert hat: als musikalisch-szenischen Widerspruch, der die Kluft zwischen den Zeiten mühelos überbrückte. Immer wieder tönen die Streicher mild dissonant in den Raum, ein Grummeln kündet Unheimliches an, die Musik bewegt sich unruhig durch die Bilder: Jazz trifft auf Elgars „Pomp and Circumstances“ (natürlich die Nr. 3), Orlando erinnert sich an sein England (wir sehen auf das London von Heute), Türkisches schwappt über den Rand, plötzlich erklingt ein leicht bizarrer Walzer, der schnell verwischt wird. Mozart stößt auf Techno, Rock auf das Ancien Régime. Das 19. Jahrhundert wird mit nichts Geringerem als dem „Rheingold“-Vorspiel angekündigt und eröffnet, während ein dramatischer Eisbruch die Musik verstärkt. Damit wird die barockisierende Musik nicht ad acta gelegt: noch im 20. Jahrhundert kommen die typischen Streicherlinien. Das Ende aber klingt wie der Anfang. Ein langer hoher, harmonisierter Ton beschließt das auch akustische Vergnügen.

Melanie Wilson hat mit ihrem Soundtrack etwas schlechthin Passendes geschaffen. Die stilistische Divergenz des Films entspricht der der Musik, am Ende findet der Zuhörer sein Vergnügen nicht in der (möglichen) Chronologie, sondern in den spielerischen Assoziationen, mit denen die Komponistin, zwischen Stimmungsmalerei und Collage, ihre Musik und ihr Sounddesign bereichert hat. Wie Victoria Ocampo, die große Publizistin (argentinisches Weltdokumentenerbe!), kurz nach dem Tod ihrer Freundin Virginia Woolf in einem Essay über die Verstorbene, eine ihrer Romanfiguren zitierend, schrieb: „Ja, Musik kommt sofort zur Sache. Das heißt, es gibt Trauer oder Fröhlichkeit, die nur sie übersetzen kann. (…) In der Musik werden unsere Bewegungen leicht. Wir weden fließend wie sie.“ Melanie Wilson hat genau diese Musik geschrieben: um die Zuhörer fließen zu machen. Man könnte, so gehört, den Abend schon deshalb auch sehbehinderten Zuschauern empfehlen. Eine Hörspielproduktion des musikalisch-textlichen, auch von der in der Kabine sitzenden Erzählerin Catlen Gawlich glänzend gesprochen Glanzstücks nach Virginia Woolf wäre, trotz aller szenisch-filmischen Ausgepichtheit, durchaus möglich. Das wäre dann keine Oper auf CD – aber schon als Hörstück ganz großes – und besonderes (Musik-)Theater.

© Stephen Cummiskey

PS: Wer sagt, dass Geschlechterkritik immer nur bierernst daher kommen muss? Mitchells Idee, aus dem „Orlando“ unterm Strich eine Komödie zu machen, dürfte zweifellos dazu beitragen, sich den Roman noch einmal genauer anzuschauen – wer darauf pocht, dass sich dies und das, was der Autorin wichtig war, nicht in der Bühnen/Filmadaption wiederfindet, sollte – Stichwort: Medienwechsel – die Bühne nicht mit der Literatur verwechseln. Denn ein Stück ist ein Stück ist ein Stück …

Frank Piontek, 16. September 2023


Virginia Woolf:
Orlando

Berlin
Schaubühne
Premiere: 5. September 2019
Besuchte Vorstellung: 13. September 2023

Regie: Kathie Mitchell
Musik / Sounddesign: Melanie Wilson