Buchkritik: „Schattenzeit“ von Oliver Hilmes

Spätestens seit dem 24. Februar 2022 diskutiert die Kulturwelt ausgiebig und mitunter polarisierend, ob und wie sich Künstler öffentlich politisch zu positionieren haben. Engagements russischer Musiker werden von Stellungnahmen und Bekenntnissen abhängig gemacht und so manche Karriere findet ein abruptes Ende bzw. kann nur noch im Heimatland verfolgt werden statt auf internationaler Bühne. Man darf jedoch sicher sein, daß die Betroffenen dort sehr weich fallen. Schweigen oder ausweichende, schwammige Äußerungen werden u. a. mit Angst um die noch in der Heimat lebende Verwandtschaft gerechtfertigt.

Daß wir jetzt und hier in einem Teil der Welt leben, in dem man seine Meinung ungestraft und öffentlich sagen kann, ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Denn auch in unserem Land gab es bekanntlich vor nicht allzu langer Zeit ein totalitäres, brutales und menschenverachtendes System. Diejenigen, die von damals noch aus eigener Erfahrung berichten können, werden immer weniger und so braucht es in Zeiten von Krieg in Europa und wieder immer stärker werdendem Haß und Antisemitismus in Deutschland auch dieses Buch, unbedingt!!

Im Mittelpunkt der Geschehnisse des Jahres 1943 steht das junge Jahrhunderttalent Karlrobert Kreiten, Sproß einer musikalischen, deutsch-holländischen Familie und höchstbegabter Pianist mit goldener Zukunft. Nach einer Bemerkung im privaten Kreis, der Krieg sei längst verloren und Hitler ein Wahnsinniger, wird er ausgerechnet von einer Freundin der Mutter denunziert und gerät in die Mühlen der Gestapo. Nach kurzem Prozeß verurteilt ihn der verabscheuungswürdigste und widerwärtigste aller Richter, Roland Freisler, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode. Alle Bemühungen der Familie, Karlrobert auch mit Hilfe prominenter Musiker und Musikliebhaber freizubekommen, scheitern. Kurze Zeit später findet das Leben eines der vielversprechendsten Talente des 20. Jahrhunderts sein Ende.

Umrahmt wird diese Geschichte von weiteren Ereignissen und Personen des Jahres 1943. So kommentiert z. B. Thomas Mann aus der Ferne die Entwicklungen in Deutschland, schreibt Viktor Klemperer seine erschütternden Begegnungen mit der aufgehetzten Jugend in seinem Tagebuch nieder und der jugendliche Hans Rosenthal muß sich in einer Gartenlaube verstecken. Die Geschwister Scholl werden festgenommen, verurteilt, getötet und ein junger Journalist namens Werner Höfer schreibt einen Artikel über eben jenen Karlrobert Kreiten, der u. a. ihn Jahrzehnte später seine Reputation kosten und das Ende seiner Karriere bringen wird. „Ach, das war da auch“, denkt man beim Lesen immer wieder, ein grauenhaftes Jahr, dem noch weitere bis zum bitteren Ende folgen sollten.

Als Angehörige der Nachkriegsgeneration in einer vergleichsweise guten Zeit lebend erscheinen die Vorkommnisse unvorstellbar. Wie konnten diese Menschen alle so blind folgen, so begeistert einem Wahnsinnigen nachlaufen, ungeachtet der provozierten Katastrophe, die die Welt, das eigene Land, die eigene Familie ins Unglück stürzte. Wie aktuell das gerade ist – und wie hätten wir uns verhalten? Man muss Sophie Scholl recht geben, wenn sie sich während des Prozesses am 22. Februar 1943 an die Zuschauer mit den Worten wendet: “Was wir schrieben und sagten, das denken Sie ja alle auch, nur haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen.“ Berührend dazu die Begegnung Viktor Klemperers mit einem älteren Herrn auf der Straße, der ihm, die Hand gebend, sagt: „Ich habe Ihren Stern gesehen und begrüße Sie, ich verurteile diese Verfemung einer Rasse und viele andere tun das ebenso“. Aber warum hat denn keiner was dagegen gemacht, fragt man sich naiv, um dann mit denjenigen mitzuleiden, von deren um Haaresbreite mißlungenen Attentaten auf den „Führer“ ebenfalls die Rede ist.

Alle diese erschütternden Ereignisse beschreibt der Autor Oliver Hilmes grandios in ruhigem, neutralem Ton, nicht wertend, nicht urteilend; geradezu emotionslos reiht er die blanken Fakten in unterschiedlich kurzen Abschnitten in chronologischer Folge, aber zwischen den gleichzeitig stattfindenden Geschichten springend, aneinander. Diese Klarheit entwickelt einen enormen Sog, fassungslos liest man Seite um Seite, kann nicht begreifen, was man da erfährt. So unaufgeregt der Text ist, so trifft er einen ins tiefste Innere, lässt einen nicht mehr los. Soweit darf es doch nicht kommen, meint man, und befindet sich im Jahr 2023 schon wieder mittendrin.

Nach dem furchtbaren Tod Kreitens werden in kurzen Abschnitten die Leben der erwähnten Personen bis zu deren Ende abgehandelt. Von den an der Denunzierung und der folgenschweren Anzeige beteiligten Frauen schiebt jede die Verantwortung auf die andere; keine will es gewesen sein, alle haben ja nur nach Vorschrift gehandelt. Ein Unrechtsbewußtsein gibt es nicht, von Umdenken, Selbstreflektion oder gar Reue keine Spur, bei niemandem. Auch Familie Kreiten, Großmutter, Eltern und Schwester mit Familie, muß weiterleben. Die Musik bestimmt fürderhin ihr Dasein. Der Vater, Theo Kreiten, schreibt in Erinnerung an seinen Sohn ein Buch mit dem Titel „Wen die Götter lieben“. Er stirbt bereits 1960, seine Frau Emmy, die auch noch die Tochter überleben muß, bleibt bis zu ihrem Tod mit 90 Jahren 1985 in der Musikszene aktiv. Wenige Bilder zu Beginn eines jeden Kapitels zeigen passende Zeitfenster zum Geschehen, aber auch Karlrobert Kreiten und seine Mutter in glücklichen Tagen. „Was hätte aus dem Jungen werden können?“, fragt man sich. Was der Welt verlorengegangen ist, kann man sich, nach den zeitgenössischen Kritiken zu urteilen, nur in kühnen Träumen ausmalen.

Dieses unfaßbare Schicksal, das ganz und gar nicht singulär ist und sich immer irgendwo auf der Welt ähnlich wiederholen wird, hinterläßt den Leser sprachlos. Gleichzeitig macht es wütend, daß Verleumdung, Hetze, Antisemitismus und Haß in unserer Gesellschaft wieder Einzug halten. All das Beschriebene ist passiert, die Quellen sind dankenswerterweise ausführlich und zu jedem Kapitel angehängt.

Lesen Sie dieses Buch, geben Sie es Ihren Kindern und/oder Schülern und treten Sie mutig allem entgegen!

P.S. Wer noch mehr über Karlrobert Kreiten erfahren möchte, dem sei die Seite http://karlrobertkreiten.de/ ans Herz gelegt. Wichtiges Buch in diesem Zusammenhang: Tod eines Pianisten – Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer.

Regina Ströbl, 1. April 2023


Oliver Hilmes

Schattenzeit

Deutschland 1943: Alltag und Abgründe

Siedler Verlag, München 2023

304 S., 10 s-w Abb.

€ 24,00

ISBN978-3-8275-0159-2