Buchkritik: „Wagners Ring“ als Comic von Craig Russel

„So gleich steigt prasselnd der Brand hoch auf, so daß das Feuer den ganzen Raum vor der Halle erfüllt und diese selbst schon zu ergreifen scheint.[…] Der Rhein ist vom Ufer her mächtig angeschwollen, und wälzt seine Fluth über die Brandstätte bis an die Schwelle der Halle. […] Hagen […] stürzt wie wahnsinnig mit dem Rufe: „Zurück vom Ring! sich in die Fluth!. Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen, in höchster Ergriffenheit, dem wachsenden Feuerschein am Himmel zu. Als dieser endlich in lichtester Helligkeit leuchtet, erblickt man darin den Saal Walhall’s, in welchem die Götter und Helden […] versammelt sitzen. Helle Flammen scheinen in dem Saal der Götter aufzuschlagen. Als die Götter von den Flammen gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.“

Mal ehrlich – wer von uns hat nicht schonmal daran gedacht, daß man diese auf der Bühne unmöglich realisierbaren Regieanweisungen Wagners nicht besser verfilmen sollte? Peter Jackson böte sich als kongenialer Regisseur von John Ronald Reuel Tolkiens „Herr der Ringe“- Roman als Fantasy-Trilogie an. Zu oft mußte man im Opernhaus über die beiden Drachen im „Rheingold“ oder in „Siegfried“ lachen und Loges Waberlohe sah immer wieder mal aus wie ein Kirmesbudenzauber. Aber so ein Filmprojekt wird sich nicht durch die Kinotickets finanzieren lassen, da hatte es Jackson mit seiner riesigen, weltumspannenden Tolkien-Gemeinde einfacher. Also muß erstmal ein Comic her bzw. eine „Graphic Novel“, wie die Darstellungsform in den letzten Jahren zunehmend genannt wird. Nimmt man den Begriff „Bildergeschichte“, so kommt man der Sache schon etwas näher, denn die Oper erzählt ja auch in Bildern und Abläufen. Die ergeben zusammen mit Musik und Libretto das Gesamtkunstwerk.

Im Vorwort zu Philip Craig Russells Adaption der Ring-Tetralogie heißt es: „Wenn das [eine Verfilmung] nicht möglich ist und die Regisseure versagen, besteht der beste Weg in unserer Vorstellungskraft oder der eines Künstlers.“ In dieser Bildergeschichte „sehen wir den Ring fast so, wie ihn Wagner vor seinem inneren Auge gesehen haben mag“, liest man weiter. Craigs Wiedergabe entspricht der gewohnten Gestaltung in einer Mischung aus germanischer Vorgeschichte und eines ungefähren europäischen Mittelalters, so wie man es auch von den Prinz Eisenherz“-Comics des begabten Zeichners Harold Rudolf Foster kennt. Da gibt es die ebenso vertrauten, wie archäologisch nicht belegten Flügelhelme, hoch aufragende Burgen und phantasievolle Gewandungen – all das ist von der Gestaltung her völlig in Ordnung, denn die ganze „Ring“-Erzählung spielt ja auch in einer zeitlich nicht näher eingegrenzten heidnischen Ära. Das um 1200 verfaßte „Nibelungenlied“ macht es übrigens nicht anders, denn hier werden völkerwanderungszeitliche Stoffe in eine hochmittelalterliche Gesellschaft mit entsprechendem Ethos projiziert. Das funktioniert nur bedingt und so ist dieses Epos, wenn man es kritisch besieht, voller Unstimmigkeiten und Motivationsbrüche. Erst Wagners „Ring“ mit einer plausiblen Integration mythischer Bestandteile aus den Versatzstücken aus Edda, Sagaliteratur und Nibelungenlied in eine geschlossene Geschichte ergibt ein stimmiges Gesamtkunstwerk.

Russells Art der Zeichnung verbindet einen sehr traditionellen Marvel-Stil mit freierer, künstlerischer und tiefgründiger Ausgestaltung, die, zusammen mit intelligenten Stories und einem hohen literarischen Anspruch die sogenannten „Art Comics“ seit den 80er Jahren zu einer eigenständigen und absolut ernstzunehmenden Kunstform gemacht hat. Mit der Farbgebung von Lovern Kindzierski (der Vorname könnte tatsächlich mit „Liebrun“ übersetzt werden, aber es handelt sich um einen Mann) mutet der handwerklich einwandfrei gezeichnete Comic sehr amerikanisch an, was ihn dem Vorwurf etwaiger Deutschtümelei vorweg entreißt. Es gibt viele Jugendstilelemente in einzelnen Aspekten wie dem Nornenseil, manchen Blumendarstellungen oder der Liebe zu extremen, ornamental-gliedernd eingesetzten Hochformaten. Da schlägt japanische Ästhetik durch, die ja sowohl den Jugendstil als auch die frühen Comics – man denke nur an den zauberhaften „Little Nemo“ von Winsor McCay – entscheidend geprägt hat.

Im Anhang findet man zahlreiche Skizzen und Studien, in denen der Jugendstil noch mehr durchschlägt; der Kopf einer Siegfried-Studie und die Bäume im Hintergrund lassen sogar an noch ältere Vorbilder wie Albrecht Altdorfer denken. Sicher beeinflußt durch die Figur des „Gollum“ aus Jacksons „Herr der Ringe“ ist Alberich in seiner schon rein körperlich gekrümmten Unaufrichtigkeit. Wie er sich nahezu nackt mit den Händen an den Felsen hochzieht, erinnert sehr deutlich an den glitschigen Gnom aus der Verfilmung.

Sein düsteres Reich Nibelheim, in dem der ausbeuterische Zwergenherrscher seine Untertanen zur Anhäufung ungeheurer Schätze mit Gewalt antreibt, ist ein flammendurchlodertes Höhlensystem voller Industrieanlagen aus dem 19. Jahrhundert – hier hat Russell Wagners Kapitalismuskritik im Innersten verstanden und entsprechend bildlich umgesetzt. Auch Loge ist so dargestellt wie man ihn sich wünscht – ein feuriger, undurchsichtiger Knabe, der sich nach eigenem Wunsch oder auf Wotans Befehl zur flüchtigen Flamme wandelt. Die Gestalt ist ja eine Erfindung Wagners bzw. eine Kombination aus der eddischen Figur des Gestaltwandlers Loki und des Feuerriesen Logi. Der neue Marvel-Loki aus dem Film soll sich offenbar von dem durch Wagner geprägten Feuer-Halbgott-Bild absetzen, weswegen er in grüner Gewandung erscheint.

Kenner der zentraleuropäischen mittelalterlichen Kultur werden möglicherweise die zu kurzen Haare von Siegmund und Siegfried anmahnen, denn die waren in vielen Landen eigentlich für die unfreien Bauern vorgesehen. Das Herabsehen auf die derart Geschorenen hat sich im Österreichischen noch im Schimpfort „Gscherter“ erhalten. Langes Haar zeichnete hingegen den freien Mann, zumal den von höherem Stand aus.

Den englischen Text hat Stephanie Pannen so übersetzt, daß das Wagner´sche Libretto ständig durchblitzt; es gibt zahlreiche Stabreime und vor allem hat die Übersetzerin darauf geachtet, daß Kernsätze wie „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“, „Leuchtende Liebe, lachender Tod“, „So blühe denn, Wälsungenblut“ oder „Zurück vom Ring!“ originalgetreu wiedergegeben sind. Ansonsten ist der Text an eine natürlich klingende Sprache angepaßt, mit gemessenen, etwas nach alten Sagen klingenden Archaismen und eingestreuten humorvollen Einsprengseln, wie beispielsweise, wenn der Giftmischer Mime Siegfried sein graues Gebräu mit dem gesungenen „Es ist noch Suppe da!“ anbietet.

Was Russells Adaption besonders auszeichnet, sind vor allem vier zeichnerische Gesichtspunkte. Die großformatigen, oft eine ganze Seite füllenden Bilder mit dem Mut zu weitläufigen Freiflächen und einem künstlerisch ausgereiften Sinn für Proportionen erzeugen eine Atmosphäre mit Tiefen und Horizonten, für die jedes Bühnenbild zu klein wäre. Dann leben die dramatischen Abläufe durch eine atemberaubende Dynamik, etwa beim Walkürenritt mit den lachenden Schildmaiden, die durch wilde Wolken und über klaffende Klüfte fliegen – ganz ohne Drahtseile und Gurte. Weiter bezaubern die kleinen Bildfolgen, die komplexe Entwicklungen darstellen oder Geschehnisse neu interpretieren. Da fällt eine Träne aus Wotans blindem Auge durch die Schwärze auf den Eschenstamm, daraus wächst ein zartes Pflänzlein, das sich zum Schwert wandelt. Dessen Knauf reflektiert einen Lichtstrahl, der sich schließlich in Wotans sehendem Auge spiegelt. Große Comic-Kunst, die zeigt, wie intensiv sich Russell mit der Vielschichtigkeit einer der, wie es im Klappentext heißt, „eindrucksvollsten[n] Erzählungen der westlichen Zivilisation“ auseinandergesetzt hat. Schließlich sind es ganz kleine Andeutungen, mit denen Russell, ein Meister der Wiedergabe feiner Mimik, seinen Figuren Seelentiefe gibt. So zeigt ein kleines Portrait von Sieglinde ihre ganze Müdigkeit und Abgeschlagenheit in der Zwangsehe mit einem brutalen Primitivling; eine hochgezogene Augenbraue Frickas im Prolog läßt ahnen, daß Wotan mit seiner Gattin noch viel Ärger haben wird.

Selbstverständlich kann der Comic die geniale Verbindung der überwältigenden Musik mit ihren unvergleichlich gestalteten Leitmotiven und dem psychologisch deutenden, vorausweisenden und vielschichtig damit verschlungenen Libretto nicht wiedergeben, das will er auch gar nicht. Für Wagnerianer ist er eine erfrischende Gelegenheit, sich das auszumalen, was man in Bayreuth oder auf anderen Bühnen schon immer mal sehen wollte, aber aufgrund technischer Beschränkungen nicht konnte.

Für Neulinge oder Jugendliche könnte dieses Buch eine willkommene Anfütterung sein, um sie in den gleichen Wagner-Drogen-Sumpf zu ziehen, in dem viele von uns sich seit Jahrzehnten befinden. Wir wollen ihnen diese Erfahrung doch nicht vorenthalten! Der Rezensent wird den Comic seiner Tochter geben und darauf hoffen, daß das Mädchen den „Soundtrack“ auch mal in Gänze hören will: Dem „Ring“ verfallen, verzaubert von zaglosem Verzücken…

Andreas Ströbl, 2. April 2023


Philip Craig Russell

Der Ring des Nibelungen

Nach dem Opernzyklus von Richard Wagner

Cross-Cult, Ludwigsburg 2023, 448 S., Comic

€ 49,99, ISBN: ISBN 978-3-96658-943-7