„Dass der einschlägt, ist für mich ebenso sicher wie das Fiasco von Rubinsteins ‚Lalla Rookh‘“. Dass „Samson“ nicht einschlug, sondern erst gar nicht das Licht der Welt erblickte: das ist ebenso sicher wie die Tatsache, dass immerhin einige Arien aus Anton Rubinsteins „Lalla Rookh“ so etwas wie überlebt haben.
Hans von Bülow sollte Unrecht behalten, als er am 23. September 1862 die euphorischen Zeilen an seinen Freund Joachim Raff schrieb. Man las sie erst kürzlich in Simon Kannenbergs verdienstvoller, 2020 publizierter Ausgabe der Briefe, die zwischen den beiden Musikern hin- und hergingen. Dort war in einem Unterkapitel des ersten Bands von den Bemühungen Ludwig Schnorr von Carolsfelds die Rede, der gern die Titelpartie gesungen hätte. Dann kreierte er den Tristan, wenige Wochen später war er tot, und Raff fand nie wieder zu seiner fast vollendeten Opern-Partitur zurück. Handelt es sich hier also um ein vergessenes Meisterwerk, gar, wie Volker Tosta, der Erstherausgeber des Werks, es im Booklet zur CD vollmundig behauptet, um einen „Geniestreich“? Liest man eine derartige Formel, wird man hellhörig; man denkt an Siegfried Wagner, den sein Biograph und Stellvertreter auf Erden, P.P. Pachl, auch einst als „Genie“ bezeichnete, ohne dass dem irgend jemand, der außerhalb der Internationalen Siegfried-Wagner-Gesellschaft tätig ist, jemals gefolgt wäre. Mit Raff verhält es sich ähnlich. Hört man unbefangen seine Werke, bemerkt man, dass seine Absenz auf den Konzert- und Opernbühnen – immerhin schrieb er noch einige andere Opern – nicht ganz grundlos ist.
Nein, auch „Samson“ ist kein „Geniestreich“, ja: Er ist nicht einmal eine Oper, die auf einer heutigen Bühne Glück haben würde. Dazu ist er denn doch zu sehr den Konventionen einer historischen Oper des 19. Jahrhunderts verpflichtet, ohne eine Musik aufzuweisen, die über ihre eigene Zeit in die Zukunft hinausragt. 2023 wurde er zum ersten Mal gespielt: konzertant, im Stadttheater Bern. Die Aufnahme zeigt zweierlei: Erstens, dass man vergessenen Werken einen Bärendienst erweist, wenn man sie vokal zweitklassig besetzt, und zweitens, dass „Samson“ nicht einmal das Zeug hat, um einer repertoiremäßig immerhin randständigen und vergleichbar orientalistischen Oper, also Carl Goldmarks etwas späterer „Königin von Saba“, an die Seite gestellt zu werden – ganz zu schweigen von DER unvergessenen Samson-Oper, also Camille Saint-Säens’ „Samson et Delilah“. Raffs Problem, mit dem das Werk elementar beschädigt wurde, lag, verkürzt gesagt, in seiner Abhängigkeit vom Wagner des „Lohengrin“. Seine Schrift „Die Wagnerfrage“ von 1854 formulierte eine Wagner-Kritik, die kurioserweise auf ihn selbst zurückschlug, obwohl er dort den Zwiespalt zwischen Wagner-Kritik und Anerkennung selber kenntlich machte. Wer in Zusammenhang mit dem „Lohengrin“-Vorspiel behauptet, dass das „Resultat einfach in der systematischen Destruction des symphonischen Styles“ bestünde und dass alles aus „monodischen Melodieen gebildet“ sei, „die auf der Oberfläche der einfachen oder figurirten Harmonie“ schwimmen würden „wie die Fettaugen auf einer Wassersuppe“, so dass man lediglich einen „Armuth an Gehalt“ konstatieren könne – wer ein Meisterwerk derart charakterisiert, sollte zumindest Adäquates entgegensetzen können. Raff vermochte es nicht, auch wenn im „Samson“ gelegentlich „pikante“ Nummern (so nannten das die Musikkritiker der Epoche) begegnen, die immerhin kurz und gut unterhalten. Das Hauptproblem aber bestand darin, dass Raff – wie gesagt: bei aller gleichzeitigen Wagner-Kritik – unfähig war, aus dem Bannkreis des „Lohengrin“ herauszutreten. Es wagnert allenthalben, so dass es statthaft ist, den „Samson“ als insgesamt epigonal zu bezeichnen. Der Text, ein typisches Produkt der Historiendramenschreiberei von Anno 1850, macht die Sache nicht besser.
Ist es ungerecht, die gleichzeitig entstehenden Werke mit dem „Samson“ zu vergleichen? Natürlich nicht. Vergegenwärtigen wir uns kurz, was neben dem angeblichen „Geniestreich“ zwischen 1851 und 1858 für die Opernbühnen komponiert wurde. Zur Erinnerung: Wagner schrieb „Rheingold“, „Die Walküre“, die ersten beiden „Siegfried“-Akte und den ersten und zweiten „Tristan“-Akt. Verdi saß am „Trovatore“, der „Traviata“, der „Vêpres Siciliennes“, dem „Simon Boccanegra“ und dem „Ballo in maschera“. Gounod schrieb den „Faust“, Berlioz in der unerhört kurzen Zeit von 1856 bis 1858 schließlich die unvergleichlichen „Troyens“, also eine historische Oper von völlig eigener Prägung, während Meyerbeer noch am „Vasco da Gama“, also der „Africaine“ saß, die allerdings inzwischen, und auch dies nicht ganz zu Unrecht, aus dem Repertoire verschwunden ist.
Und was gab es damals von deutschen Komponisten? Peter Cornelius komponierte die komische Oper „Der Barbier von Bagdad“ und, gleichzeitig mit den „Troyens“, den „Cid“, die eingespielt wurden, aber fast vergessen sind, weil er, wie Raff, auf dem Gebiet der Oper nicht aus dem übermächtigen Schatten Wagners herauszutreten vermochte, auch, wie Raff und im Vergleich mit dem Wagner der Reifezeit, nicht besonders inspirierte Musik hinterließ. Der Rest der deutschen Opernmusik der 1850er und frühen 1860er Jahre ist ansonsten rettungslos im Mauseloch der Operngeschichte versunken. Bruch (von dessen „Loreley“ immerhin eine Einspielung existiert), Aubert, Reinecke und wie sie alle hießen: Wer kennt die Werke? Das Interessanteste, was kurze Zeit später, außerhalb des Verdi-Landes, wieder interessant war, war Smetana, der schon mit den „Brandenburgern von Böhmen“ 1862/63, bei allen Wagner-Erinnerungen, seinen genialen Personalstil hat und sich mit seinen weiteren sieben Opern zumindest in die tschechische Musikgeschichte tief einschreiben wird. Bedenkt man jedoch, dass es neben Verdi kein einziger italienischer Opernkomponist der Ära geschafft hat, im Repertoire zu bleiben und auch auf französischer Seite kaum Haltbares blieb, da keine einzige Meyerbeer-Oper heute im Kernrepertoire verankert ist, relativiert sich das Bild, oder anders: man muss sich nicht darüber wundern, dass auch Raffs „Samson“ keine Karriere machte, sie vermutlich auch nicht, wäre sie in Weimar oder München uraufgeführt worden, gemacht hätte. Dazu war die Partitur einfach zu nah dran am notorisch unerreichbaren Original.
Worin besteht nun das dramaturgisch Eigenartige des „Samson“? Es ist weniger originell als angenommen, indem der Komponist die Formen der supermodischen „Grand Opéra“ mit dem „von Wagner angebahnten Musikdrama“, wie er schrieb, vereinen wollte. Versteht man darunter eine Ansammlung von Chören, Ballett-Einlagen, Liebesduetten und Monologen, die musikalisch den Einschlag des Wagner-„Styls“ von 1845 verraten, ist Raff die Synthese tatsächlich gelungen – doch muss bezweifelt werden, ob der Stil-Mischmasch und die partielle Unselbständigkeit, konkret: die Abwesenheit eines persönlichen Tons bei gleichzeitiger Beibehaltung obsolet gewordener Formen, heute noch zu faszinieren vermögen. Wie so eine Synthese zu funktionieren vermag, hat, wohl als Einziger, Giuseppe Verdi bewiesen, als er mit „Don Carlos“ seine vollkommene „Grand Opéra“ vorlegte, bevor er mit „Aida“ den Weg einer untrivialen wie originellen konsequenten Musikdramatik fortsetzte; schon „Simon Boccanegra“, gleichzeitig mit einigen Teilen des „Samson“ komponiert, zeigt ja, wie so eine Oper klingen kann. Allein Meyerbeer plus Wagner: das funktioniert einfach nicht (wer behauptet, dass „Rienzi“ im Gefolge Meyerbeers geschrieben worden war, verkennt die Tatsache, dass das Werk so stark ist, dass sich Meyerbeer selbst von ihm inspirieren ließ und die Musik eher von Bellini und Spontini als von Meyerbeer herkommt). Dass Raff relativ wenige Arien bzw. Arioses komponierte, um die Musik dem Drama dienstbar zu machen, ist zumindest auffällig, auch wenn die gleichzeitig komponierten Lieder der „Walküre“ uns darüber Auskunft geben, dass auch Wagner, bis zuletzt, so etwas wie Arien schrieb… Allein, Raff ließ seine Oper mit einer auskomponierten Wagner-Kritik beginnen. Der Eingangschor, ein Bittchor der Philister, klingt schlicht und einfach einfallslos, sollte aber, wie Severin Kolb, der Leiter des Joachim-Raff-Archivs im Booklet schreibt, wohl dem Kontrahenten Wagner zeigen, wie man „tragfähige Motive für die kontrapunktische Gestaltung seiner Chorsätze“ erfinden könne. Raff saß, man kann es nicht anders sagen, in seinem Theorie-Glashaus, ohne ein Werk vorlegen zu können, das dem kritisierten Wagner Paroli hätte bieten können. Sein Problem aber lag weniger in der Tatsache begründet, dass die Komposition einer historischen Oper einen stilistischen Eklektizismus verlangte, der, so Carl Dahlhaus in seinem Aufsatz „Wagner. Meyerbeer und der Fortschritt“, das „kompositionstechnische Korrelat der historischen Sujets bildete“. Das Problem Raffs lag darin begründet, dass er die Anbindung an bestimmte erkannte Errungenschaften der Wagnerschen Musikdramatik aus eigenem Unvermögen allzu oft an eine stilistische Nähe band, die das Anhören vieler Nummern schlicht überflüssig macht. Da klingen an: Elsas „Einsam in trüben Tagen“, die marschartige Musik der Vorbereitung zum Zweikampf, die Szene Ortrud/Elsa (in der Abimelch/Delilah-Szene), einige Fanfaren, die tief im Schatten von Wagners Fanfaren stehen, an denen Wagner so lange arbeitete, bis sie unverwechselbar klangen. Da hört man in der großen Szene zwischen Samson und Delilah im zweiten Akt ausgesprochene „Lohengrin“-Töne, während die lyrische Liebesszene aufgrund ihrer Quadratur keinen Vergleich mit der kurz danach entstandenen Tristan-und-Isolde-Szene des zweiten „Tristan“-Akts duldet; auch der Hinweis auf das vergleichbare Moment der plötzlichen Unterbrechung des Stelldicheins zeigt nur, dass Wagner die Situation dramatisch erfasste, während Raff noch im alten Nummernschema verharrte. Das große Ensemble im fünften Aufzug erinnert wieder an den „Lohengrin“, nämlich das kollektive Gebet als kontemplatives Ensemble, Samsons Lied kurz vor dem Ende der Oper („in jäh auflodernder Begeisterung“!) gar an Tannhäusers Venuspreislied. Zu viele Reminiszenzen, „zuviel, zuviel!“ Der Schluss ist schließlich seltsam abrupt.
Zwischendurch komponierte Raff jede Menge „Metermusik“, wie es ein Schweizer Freund und Zeuge der Berner Aufführung kürzlich formulierte, also uninspirierte Motiv-Sequenzierungen und Rezitative, Aufgeregtheiten im Orchester und stark oratorisch gefärbte Passagen, die die Handlung zum Stillstand bringen. Manchmal schimmern immerhin ein paar Edelsteinchen auf: hier ein paar hübsche Konzertnummern für Violine bzw. Violoncello und Orchester (Zwischenspiele, Pariser Ballett-Einlagen, man könnte sie mit ein paar anderen Raff-Konzertstückchen auf einer Silberscheibe vereinigen), dort ein paar Holzbläser-Extravaganzen auf dem instrumentatorischen Stand der Zeit, einmal sogar ein Hauch Verdi (Delilahs „O höre mild mein heißes Flehen“ im ersten Akt). Vieles ist „ganz schön“, besitzt – selten – pochende Rhythmen und eine delikate Färbung, aber kaum etwas ist zwingend. Mit anderen Worten: Die Oper hat keinen „Zug“.
Und wie wird das alles nun gespielt und gesungen? Leider wurde die Delilah schlicht und einfach schlecht besetzt. Olena Tokar besitzt einen unschönen, gequetschten Sopran, während Magnus Vigilius zwar über eine heldisch-lyrische Tenorhöhe verfügt, aber gelegentlich intonationstrüb klingt. Sein Stimmorgan ist jedoch im Vergleich zum Micha (einer dramaturgischen Leerstelle) des Michael Weinius geradezu golden zu nennen, und auch Robin Adams verfügt als Abimelech nicht über die vokale Kompetenz, die wichtige Basspartie des Vaters der Delilah mit völliger Sicherheit zu gestalten. Das Berner Symphonieorchester aber macht, wie man so schön sagt, unter Philippe Bach einen guten Job, wenn auch manche Passage streichermäßig ein klein wenig dünn klingt. Wäre „Samson“ eine bessere Oper, wenn sie bei ihrer „Welterst“- und wohl auch Letzteinspielung erstklassig besetzt worden wäre? Vielleicht, denn erst die Aufführung ist ja „das Werk“, aber die grundsätzlichen Einwände gegen Raffs Epigonalismus wiegen schwer.
Und doch ist es gut, dass der „Samson“, der denn doch nicht „einzuschlagen“ vermag, eingespielt wurde, denn unsere Kenntnis der deutschen Oper der reifen Wagner-Zeit tendiert, soweit es die musikalische Praxis betrifft, gegen Null. Der „Samson“ ist geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wieso kein deutscher Komponist der Wagner-Zeit auf den Bühnen überlebt hat – weil die ganz wenigen Genies eben alles, und zurecht, an Zweit- und Drittklassigem kenntlich machten und beiseite drücken, was sonst noch lebt und wirkt. Die Aufnahme beweist es, als Nachvollzug von Raffs impotenter Wagner-Kritik, mit aller Unmissverständlichkeit, nicht zuletzt die oft bewiesene Tatsache, dass deutsche Opern-Ausgrabungen des 19. Jahrhunderts nur selten Schätze zutage fördern.
Immerhin: Ein Exempel.
Frank Piontek, 3. September 2024
CD: Samson
Joachim Raff
Ersteinspielung
Schweizer Fonogramm
Audiatur et altera pars: Unser Kritiker Kaspar Sannemann war von der konzertanten Aufführung mit derselben Besetzung in Bern begeistert und sprach von einer „grandiosen Wiederentdeckung“.