Man ist zwar wie erschlagen nach gut drei Stunden hochdramatischen Fortissimo-Gesangs unter permanentem Hochdruck – aber glücklich, diesen gewaltigen Sog miterlebt haben zu dürfen. Raff hat mit dem SAMSON definitiv eine Oper geschaffen, die auf die Bühne gehört, eine szenische Auseinandersetzung verdient. Das lässt sich nach dieser konzertanten Wiedergabe, die im Nachgang einer Einspielung für das Label „Schweizer Fonogramm“ auf der Bühne des Theaters Bern mit Fug und Recht bestätigen. Diese Musik geht unter die Haut; Raffs Amalgam aus Wagners Doktrin des Musiktheaters, der Grand Opéra eines Meyerbeer und einer Behandlung der Singstimmen, die an Schumanns GENOVEVA und Webers EURYANTHE anknüpft, ist ungemein packend. Da gab es kaum einen Moment der Entspannung, kaum Passagen, wo man die Konzentration verlöre, das war ein überwältigender Strudel von stimmlicher Kraftentfaltung, raffinierter Orchestrierung und aufrüttelndem Chorgesang, packend vom herrlich leuchtenden Beginn mit der vom Klagechor untermalten Eröffnungsszene der Delilah bis zum von Samsons unermesslichen Kräften ausgelösten und alles und alle unter sich begrabenden, musikalisch von Raff so präzise und effektvoll konzipierten Tempeleinsturzes am Ende.
Dass es zu Raffs Lebzeiten (und leider auch in den gut 160 Jahren danach) bis zur Uraufführung letztes Jahr in Weimar zu keiner Aufführung dieser bemerkenswerten Oper gab, lag zum Teil an unglücklichen Umständen. Doch wohl nicht nur daran: Denn beim Erleben der gestrigen Schweizer Erstaufführung in Bern wurde einem schnell klar, welch anspruchsvolle Gesangspartien Raff da komponiert hatte. Dazu braucht es Stimmen mit schier unerschöpflichen Reserven – und die standen für die CD-Einspielung und für dieses – leider einmalige – Konzert definitiv zur Verfügung. Magnus Vigilius in der Titelrolle des Samson muss zwanzig Minuten auf seinen ersten Auftritt warten und dann mit einem durch Mark und Bein gehenden, vom Fortissimo aus ins Diminuendo abgleitenden Delilah-Ruf einsteigen, ein Auftritt von der Schwierigkeit her durchaus vergleichbar mit dem Esultate aus Verdis OTELLO. Magnus Vigilius meistert die heldentenorale, gigantische Partie mit nie nachlassender vokaler Präsenz und den notwendigen unerschöpflichen stimmlichen Reserven. Er kennt keine Probleme bei langgehaltenen Tönen, kraftvollen trompetenhaften Passagen, er schwingt sich mühelos und sauber in die höchsten Lagen und fesselt mit seiner Gestaltung, ja bannt einen an die Sesselkante. Seine Siegesansprache im ersten Akt der pure Wahnsinn an überwältigender Sangeskraft, strotzend vor Virilität. Im dritten Akt, dem „Liebesakt“ ist er zu zarteren Phrasen durchaus fähig, im vierten Akt, wo ihm er bereits sein Augenlicht genommen worden war und er gefesselt im Gefängnis liegt, beschwört er mit unbändiger Kraft seinen Rachewillen und singt ergreifend (übrigens parallel mit Delilahs Gesangslinie- etwas, was bei Wagner kaum vorkommt) seine messianische Passage, die neutestamentarisch mit „Es ist vollbracht“ endet.
Die Delilah von Olena Tokar steht ihrem tenoralen Partner an dramatischer Durchschlagskraft in nichts nach. In Raffs Oper ist die Delilah nicht die erotisch-fatale Verführerin wie in Saint-Saëns‘ SAMSON ET DALILA, Raff hat sie differenzierter als junge Frau gezeichnet, die zwischen Liebe zu Samson und Liebe zum Vater aufgerieben und von den Männern manipuliert wird, sich aber auch zu emanzipieren vermag. Ihre Verfluchung des Vaters am Ende des dritten Aktes, nachdem sie erkannt hatte, wie sie von ihm, von Micha und vom Oberpriester missbraucht worden war, führt zu Gänsehaut. Olena Tokars mühelos ansprechender Sopran bewältigt die Kraftanstrengungen souverän, die Stimme kann wunderbar leuchten, verhärtet sich manchmal unter großem Druck auch leicht. Gerade im vierten Akt gelingen ihr dramatisch tiefgreifende Einblicke in ihre Psyche. Auch das Duett mit dem Vater im zweiten Akt, König Abimelech, ist von exquisiter Tongebung geprägt. Ja, dieser Abimelech: Was für ein überwältigendes Rollenporträt zeichnet Robin Adams da. Erstens einmal ist seine Diktion von exemplarischer Deutlichkeit, und zweitens macht er den royalen Gegenspieler Samsons dank seines exzellent geführten, durchschlagskräftigen Baritons zu einem vokalen Ereignis. Seine großangelegte Szene zu Beginn des zweiten Aktes, die von Raff so gekonnt von introspektiver Deklamation zu ariosen Aufschwüngen führt und schließlich in das erwähnte, gefühlsintensive Vater-Tochter Duett mündet, gerät zu einem Höhepunkt des Abends. Neben Samson muss eine zweite Heldentenorrolle besetzt werden, die des Micha, dem von Abimelech Delilahs Hand versprochen worden war, der später gegen Abimelech rebelliert und erst vom Oberpriester etwas besänftigt werden kann. Für die CD-Einspielung und diese konzertante Aufführung konnte Michael Weinius verpflichtet werden (er sang in der Schweiz z. B. den Tristan unter Noseda am Opernhaus Zürich und den Siegfried im RING DES NIBELUNGEN in Genf). Weinius ist für mich einer der begnadetsten Wagnerschen Heldentenöre unserer Zeit – und als Micha setzt er auch in Bern bombenstarke Akzente, bereichert die ungemein gefühlsintensiven Ensembles (Quintette, Sextette, die wie Concertati wirken, auch etwas, was Wagner verabscheute, Raff hingegen wirkungsvoll einsetzte) mit seinem strahlenden Heldentenor. Raff zeigt in der Figur des Micha eindringlich, dass „Überläufer“ oftmals zu brutalerem Fanatismus neigen als die eigentlichen Fanatiker.
Dem Oberpriester verleiht Christian Immler seine fantastische, wunderschön gerundete und mit weicher, profunder Tiefe ausgestattete, balsamische Bassstimme und strahlt überzeugende Autorität aus. Mirjam Fässler als Oberpriesterin und Katharina Willi als Frau aus dem Volke ergänzen das großartige Ensemble in ihren Auftritten aufs Feinste. Aufhorchen lassen der herrlich strömende Bass von Christian Valle als Seran von Askalon, und der Tenor Bareon Hong als Gefängniswärter. Der Chor der Bühnen Bern hat ein gewichtiges Wort mitzureden in dieser Oper, die zwar weitgehend frei ist von Genreszenen, dem Chor jedoch dankbare und vielseitige Aufgaben zuweist, welche die Chorsänger mit klangstarker Bravour lösen (einstudiert von Zsolt Czetner). Raff wartet mit einer Orchesterbesetzung in der Grösse des Lohengrin-Orchesters auf. Die Uraufführung des LOHENGRIN unter der Leitung von Franz Liszt fand ja in der Zeit statt, als Raff als Liszts Assistent in Weimar weilte. Die orchestrale Farbenpracht in Raffs SAMSON ist schlicht grandios. Das ist einfach meisterhaft orchestriert – und der Dirigent Philippe Bach und das Berner Symphonieorchester lassen keinen Zweifel aufkommen, dass diese Oper es mehr als wert ist, gepielt und gehört zu werden.
Von den vielen solistischen Einzelleistungen der Musiker seien vor allem das berührende Violinsolo des Konzertmeisters Alexis Vincent im Vorspiel zum dritten Akt und das Solo des Cellisten hervorgehoben. Die Ballettmusik zu Beginn des fünften Aktes ist nicht Bloß eine Verbeugung vor der Grand Opéra oder kulinarisches Beiwerk, nein sie zeigt Raffs Schaffen in ihrer ganzen Pracht: Warm aufblühende Musik, dramatisch aussagekräftig, packend, mit aparten Kontrasten (Blech-Harfe) aufwartend. Obwohl das Haus nicht ausverkauft war (und nach der Pause einige Plätze zusätzlich leer blieben), war der Applaus am Ende dankbar und langanhaltend. Da die Solisten vor dem Orchester platziert waren, trafen deren Stimmen logischerweise im relativ kleinen Berner Haus oftmals mit brachialer Lautstärke auf die Ohren der Zuhörer. Kann gut sein, dass es einigen Leuten zu laut war. Auf der CD lässt sich das natürlich ausbalancieren. Zudem hatte man auf eine Übertitelung verzichtet, was es unvorbereiteten Besuchern wohl erschwerte, der Handlung und den Befindlichkeiten der Handelnden zu folgen. Aber die, die bis zum Schluss blieben, haben einer grandiosen Wiederentdeckung beiwohnen können!
Wer mehr Raff hören will, kann dies am 29. September in Winterthur tun: Da spielt das Musikkollegium Winterthur Raffs dritte Sinfonie „Im Walde“.
Kaspar Sannemann, 11. September 2023
Samson (konzertant)
Joachim Raff
Bühnen Bern
8. September 2023
Dirigent: Philippe Bach
Berner Symphonieorchester