Premiere am 01.02.2020
Romeo und Julia sind durch Shakespeares Tragödie zum bekanntesten Liebespaar der Literaturgeschichte geworden, wenn sie auch in Hero und Leander, Pyramus und Thisbe, Tristan und Isolde, Flore und Blanscheflur sowie Troilus und Cressida bedeutende Vorläufer haben. Gounod und seine Librettisten Jules Paul Barbier und Michel Florent Carre verändern die berühmte Vorlage nur in wenigen Punkten. Juliettes Vater (mit knatschgelbem Sakko) ist nun Witwer und sorgt sich deshalb um Bestand und Erbe seiner angesehenen Familie. Die Heirat Juliettes mit Graf Paris gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung. Für Juliette indes ist die Heirat ein Schreckensszenario. Sie will frei sein und leben. Die halsbrecherischen Koloraturen in ihrer großen Arie „Je veux vivre“ zeigen eindrucksvoll ihre Verzweiflung und Panik angesichts der bevorstehenden Zwangsheirat. Im 1. Bild des 4. Akts kommt es anders als bei Shakespeare dann tatsächlich zu der Hochzeitsfeier zwischen Graf Paris und Juliette, bei der Juliette dank des Schlaftrunks von Bruder Laurent zum Entsetzen der Festgesellschaft effektvoll scheinbar tot zu Boden sinkt. In der Oper endet die Tragödie anders als im Schauspiel nicht mit der Versöhnung beider rivalisierender Familien, sondern mit dem Tod Romeos und Juliettes.
Mit diesen Änderungen rücken Gounod und seine Librettisten den tragischen Konflikt der Liebenden ganz ins Zentrum der Partitur. Vier große Duette zwischen Juliette und Romeo zeigen die Entwicklung ihrer Liebe von der ersten Begegnung auf dem Fest der Capulets über die gegenseitige, fast scheue Erklärung ihrer Zuneigung in der berühmten Balkonszene, über den schmerzlichen Abschied bis zur Vereinigung im gemeinsamen Tod. Die Aussöhnung der verfeindeten Familien steht bezeichnenderweise bei Gounod nicht explizit wie bei Shakespeare am Ende der Tragödie, sondern der selbstbestimmte Tod der Liebenden, der als ein Sieg über das Schicksal und alle gesellschaftlichen Widerstände, als ein letzter bitterer Triumph über Engstirnigkeit, Vorurteile und unheilvolle Zufälle zu verstehen ist.
Philipp Westerbarkei verweigert in seiner Inszenierung den Liebenden ihr tragisches Happy End. Roméo stirbt, wobei er nicht Juliette, sondern deren Hochzeitskleid in den Armen hält. Juliette aber bereitet ihrem Leben mit dem Dolch in der Hand kein Ende, sondern fügt sich dem Vater und schreitet zur Hochzeit mit Graf Paris.
Im ausführlichen Interview im Programmheft erläutert Westerbakei diese Umdeutung so: Er möchte zeigen, „wie Julia durch die gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich zur Mörderin Roméos wird und in ihrem eigenen Leben erstickt“. Er wolle den Mythos auf seinen Wahrheitsanspruch prüfen. Dem Zuschauer erschließt sich der Sinn dieser Neudeutung nicht, wie auch viele andere Regieeinfälle eher verstören als zur Erhellung der Tragödie beitragen. In den Pausen zwischen den einzelnen Bildern sieht man ein junges Liebespaar vor dem Vorhang, das aufgrund seiner identischen Gewandung offensichtlich die jungen Liebenden darstellen soll. Sie streiten und lieben sich, wenden sich voneinander ab und kommen wieder zusammen, während dumpfe, langsam ersterbende Herzklopfgeräusche wohl auf das tragische Ende dieser Liebe vorausdeuten sollen. Wie wenig diese Personenverdoppelung durchdacht ist, wird dann dadurch deutlich, dass die beiden jungen Liebespaardarsteller im 4. und 5. Akt gar nicht mehr auftauchen. Eher komisch erscheint auch die Idee, den toten Tybalt bei der Hochzeitsszene blutverschmiert auf der Bühne herumtorkeln zu lassen. Zu allem Überfluss muss er auch noch an seiner eigenen, mumienhaft eingewickelten Leiche herumnesteln, die als böses Omen auf einigen Stühlen im Vordergrund der Bühne abgelegt wird. Rätselhaft bleibt auch, warum sowohl Tybalt Mercutio wie auch Roméo Tybalt ganz offensichtlich nicht im Kampf, sondern arglistig und ohne Not erdolchen. Und warum müssen die Chormitglieder, die vor allem in den Kampf- und Festszenen arg statisch agieren, andauernd die Hände zum Himmel recken? Das im Hier und Jetzt angesiedelte Bühnenbild (Tatjana Ivschina) wirft ebenfalls viele Fragen auf, ohne schlüssige Antworten zu bieten. Die Felsenlandschaft mit illuminierter Grotte für die Gottesmutter soll angeblich auf die hitzige Stimmung während Ferragosto erinnern, bei der die allgemeine Fröhlichkeit schnell in Gewalt und Messerstecherei umschlägt. Nun gut. Aber die Massen von Stühlen, die entweder auf der Bühne herumliegen oder zu einem Turm aufgeschichtet werden, entwickeln wahrlich keinen südländischen Flair und verhindern in der poetischen Balkonszene, in der Juliette auf diesem Stuhlturm stehen muss, jegliche Stimmung. Immerhin findet dann doch noch so etwas wie Atmosphäre statt, wenn in der wunderschönen wehmutsvollen Abschiedsszene von Juliette und Roméo („Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“) Lichter auf die Bühne sinken und von einem großen Spiegel reflektiert werden.
Und auch aus dem Orchestergraben strömt das, was die Inszenierung nicht bietet oder aber nicht bieten will, nämlich Sentiment und große Gefühle. Marie Jaquot am Pult der Duisburger Symphoniker bringt die schwelgerische, z.T. elegische, immer ungemein melodiöse vorimpressionistische Musik Gounods wunderbar zum Klingen. Sie ist eine einfühlsame Begleiterin der Sängerinnen und Sänger und treibt den Chor der Deutschen Oper am Rhein (Gerhard Michalski) zu einer bewundernswerten, fast sakralen Klangfülle. Sie trifft damit den Stil der Chorkompositionen Gounods in dieser Oper – Gounod hat sich schließlich vor seinen großen Opern in der Kirchenmusik einen Namen gemacht – genau.
Sylvia Hamvasi als Juliette ist seit 2001/02 Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein und ist in unzähligen Partien als lyrischer Sopran zu einem Publikumsliebling in Düsseldorf und Duisburg avanciert. Über das Koloraturfach ist sie eigentlich hinausgewachsen. Sie ist in dieser schönsten tragischen Liebesgeschichte der Opernliteratur kein junges Mädchen, sondern eine gereifte Frau. Die Stimme klingt deshalb auch in den eher elegischen, verhaltenen Passagen der Partitur am schönsten. Die Koloraturen und vor allem auch die expressiven Fortissimostellen in den Ensembleszenen bewältigt Sylvia Hamvasi immer noch mit Bravour, wenn auch der ein oder andere Ton etwas scharf klingt und die Leichtigkeit einer jungen Kolorateuse vermissen lässt. Als Roméo verfügt der argentinische Tenor Gustavo Gennaro über eine lyrische, für das französische Fach in Klangfarbe und Ausdruck beinahe ideale Tenorstimme, die er vor allem in den Duetten und in seiner berühmten Arie im 2. Akt geschmackvoll einsetzt. In den großen Ensembleszenen fehlt freilich die große Durchschlagskraft, da wirkt die Höhe eher angestrengt und gepresst. Besonders in der großen Todesszene im 5. Akt trumpft Gustavo Gennaro aber noch einmal mit großer Leidenschaft auf und wächst über sich hinaus. David Fischer als Tybalt, Emmett O‘ Hanlon als Mercutio, Thorsten Grümbel als Bruder Laurent, Bruno Balmelli als Graf Capulet, Katarzyna Kunico in der undankbaren Rolle als Gértrude, vor allem aber Miriam Albano als Stéphano agieren mit großem Engagement und tragen nicht unwesentlich zu dem musikalischen Erfolg des Abends bei.
Das Publikum im gut besuchten Haus feierte die Sängerinnen und Sänger mit lang anhaltendem Beifall. Auch das Regieteam wurde mit freundlichem Applaus bedacht, in den sich zwar wenige, dafür aber umso lautere Buhrufe mischten.
Fazit: Das musikalische Niveau der Aufführung lohnt den Besuch in Duisburg auf jeden Fall.
Weitere Termine: 08.02./18.02./29.04.2020
Norbert Pabelick, 03.02.2020