Berlin, Ballett: „Bovary“, Christian Spuck

Endlich wieder ein neues Handlungsballett nach all den Zwei- und Dreiteilern mit vertanzter Musik ohne erzählende Handlung. Christian Spuck hat beim Staatsballett seine neue Kreation zur Uraufführung gebracht. Bovary heißt das Tanzstück nach Gustav Flauberts Roman Madame Bovary. Die Titelheldin ist Emma, die den verwitweten Landarzt Charles Bovary geheiratet hat und sich in ihrer Ehe langweilt. Ihr Mann zieht mit ihr nach Yonville, wo sie auf einem Ball den jungen Studenten Léon kennenlernt, zu dem sie eine Selenverwandtschaft fühlt. Aber sie steigert sich auch in ein Verlangen nach Luxus und verschuldet sich zunehmend bei dem Warenhändler Lheureux. Auf einer Landwirtschaftsausstellung begegnet ihr der Grundbesitzer Rodolphe, von dem sie sich verführen lässt. Teure Käufe  und luxuriöse Kleidung führen zu immer höherer Verschuldung. Sie plant, mit Rodolphe zu fliehen, der sie jedoch verlässt. Ihr Mann fährt mit ihr ins Theater nach Rouen, wo sie Léon wieder trifft. Inzwischen droht die Pfändung, weder Léon noch Rodolphe können oder wollen helfen – Emma bleibt einzig der Gifttod. Als gebrochener Mann bleibt Charles zurück.

(c) Serghei Gherciu

Spuck hat sich in seiner Choreografie dicht an die Romanvorlage gehalten, so dass die von Marina Frenk eingesprochenen Ausschnitte aus dem Roman nicht nötig gewesen wären. Seine Inszenierung nutzt zudem derzeit gängige Stilmittel, wie sie im Genre Oper schon lange eingesetzt werden und eher verzichtbar sind:  Videoprojektionen (Tieni Burkhalter), welche das Landleben, den Glamour der Mode und Stummfilm-Liebesszenen illustrieren, sowie von einem Kameramann live gefilmte Close ups von Emma, die an die hintere Wand geworfen werden. Die Handlung vollzieht sich in einem hohen grauen Einheitsraum (Rufus Didwiszus), der eine marode Atmosphäre atmet und von Neonröhren trübe beleuchtet wird (Martin Gebhardt). Hinreißend sind Emma Ryotts Kostüme, die von schlichter Kleidung für die Dorfbevölkerung bis zu extravaganten Kreationen für die Ballgäste auf dem Schloss in raffinierten Grau-, Beige- und Mauve-Tönen sowie grellbunten Outfits mit Federputz und Glitzer für die Paradiesvögel des Varietés reichen. Emma trägt mehrere Kostüme – vom weißen Hochzeitskleid über die mattgoldene Ballrobe und eine dunkelviolett gemusterte Toilette bis zu einem chicen, taillierten Zweiteiler bei der Ausstellung, einem kostbaren schwarzen Spitzenkleid im Varieté und einer weißen, schwingenden Abendrobe, die zu ihrem Totenkleid wird. Rätselhaft sind zunächst die vielen Gruppentänzer in zeitlos neutraler Gewandung oder Trikots, die vielfach zum Einsatz kommen und die man bald als personifizierte Gedanken und Sehnsüchte der Hauptfigur ausmacht.

Die Aufführung beginnt mit einem Prolog, der das tragische Ende der Handlung vorwegnimmt. Regungslos sitzt Charles auf einem Stuhl, neben ihm steht das Dienstmädchen Félicité (Vivian Assal Koohnavard). Verschleierte Frauen in schwarzer Trauerkleidung verharren auf Stühlen wie Statuen auf einem Friedhof. Am Ende des Stückes wird man sie wiedersehen. 

Danach folgen die einzelnen Bilder dem Roman, beginnend mit der Hochzeit von Emma und Charles. Alexei Orlenco zeichnet den Ehemann als gutmütigen, treusorgenden, aber biederen Gatten. Rollengemäß ist die Figur choreografisch unterbelichtet, aber der Tänzer ist stark im mimischen Ausdruck. Emmas beiden Liebhabern Léon und Rodolphe sind größere tänzerische Aufgaben zugeordnet. Ersteren stattet Alexandre Cagnat als romantischen Typ mit jugendlichem Charme aus, sein Pas de deux mit Emma ist von sensiblem Charakter und zeigt sehr schön beider erwachende Zuneigung. Wenn sie sich später wiedersehen, ist mehr Leidenschaft zu spüren. Solche existiert von Beginn an zwischen Emma und Rodolphe, den David Soares als eitlen, egozentrischen Lebemann gibt. Seine Pas de deux mit Emma sind stürmisch und glutvoll bis zur Ekstase, erinnern an jene von Marguerite und Armand in Neumeiers Kameliendame, die in mehrfacher Hinsicht

Vorbild (und Maßstab) für dieses Stück ist. Den vielen Pas de deux mag im choreografischen Vokabular eine gewisse Gleichförmigkeit eigen sein, aber Weronika Frodyma – als Emma ein herber, gar verhärmter Typ – ist eine Interpretin von Format, die jedem Tanzduett einen individuellen Charakter verleihen kann. Sie ist das Ereignis des Abends und leistet schier Übermenschliches in der Vielzahl ihrer fordernden Szenen. Ihre Ausdruckspalette scheint immens – mit ihrem Gatten ist sie verunsichert, kühl und distanziert. Man spürt ihre Sehnsucht nach einem freieren Leben, das sich in der Begegnung mit Léon anzubahnen scheint. In beide ersten Tänze ist Emma schüchtern, zaghaft, versteift, später dann voller Hingabe und gewachsener Leidenschaft. In den Szenen mit Rodolphe sieht man eine andere Emma – geradezu abgängig von der Zuneigung des Geliebten, unterwürfig und demütig wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit. Diese bringt auch die faszinierende Figur des Warenhändlers Lheureux ins Spiel, den Dominik White Slavkovsky als expressionistische Figur in offenbachscher Manier ganz in Schwarz gibt. Ihm gehört einer der letzten Pas de deux mit Emma, die sich in ihrer Verzweiflung, ob der Schulden ihm sogar hingeben will. Wie seine spukhafte Entourage wirkt das skurrile Quartett aus Apotheker (Matthew Knight), Notar (Dominik Whitbrook). Bürgermeister (Wolf Hoeyberghs) und Gerichtsvollzieher (Ross Martinson). Überhaupt gelingen dem Choreografen in den Gruppen originelle Formationen mit oft groteskem Anstrich, wie er auch in den großen Tanzszenen auf dem Ball (eine, die an Crankos Onegin erinnert) und bei der Landwirtschaftsausstellung mit Soldaten in Uniform und Mägden mit Nonnenhauben lebhafte, attraktive Bilder erfindet.

Den triumphalen Erfolg der Uraufführung am 20. Oktober 2023 sichert vor allem die letzte, ausgedehnte Szene (Das Gift. Der Tod), in der Frodyma über sich hinauswächst und den Todeskampf der Selbstmörderin mit derart eindringlicher, erschütternder Intensität darstellt, dass man ergriffen und zu Tränen gerührt ist. Aus einem großen Apothekerglas hat sie das weiße Pulver in ihr Gesicht geschaufelt und qualvoll sterbend einen letzten Tanz mit ihrem Ehemann. Weronika Frodyma hat sich mit dieser Ausnahmeleistung für den Rang einer Ersten Solistin qualifiziert.

Die musikalische Folie ist eine spannende Collage aus romantischem Wohlklang mit Ausschnitten aus den drei Klavierkonzerten von Camille Saint-Saëns und dissonanten Klängen mit Györgi Ligetis Apparitions, ergänzt um Kompositionen von Arvo Pärt, Charles Ives und Thierry Pécou sowie Camille mit ihrem Titel „She was“, der mehrfach erklingt und zuweilen an den „Cold Song“ aus Purcells King Arthur erinnert. Adrian Oetiker ist der brillante Solist am Klavier; Jonathan Stockhammer leitet das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit stilistischer Kompetenz für die kontrastierenden Kompositionen. Der in Publikumseuphorie endende Abend ist nicht nur ein wunderbarer Saisonauftakt, sondern auch ein Versprechen für die Zukunft der Compagnie unter ihrem neuen Intendanten.

Bernd Hoppe, 23. Oktober 2023


Bovary
Musikcollage

Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin
Uraufführung am 20. Oktober 2023

Choreografie: Christian Spuck
Musikalische Leitung: Jonathan Stockhammer
Orchester der Deutschen Oper Berlin

Trailer