Berlin: „Messa da Requiem“, Staatsballett Berlin (Erste Besprechung)

Giuseppe Verdi komponierte seine Messa da Requiem 1874 zum Gedenken an den großen italienischen Dichter Alessandro Manzoni, der vor allem durch seinen Roman I promessi sposi (Die Verlobten) Berühmtheit erlangte.  Von Beginn an wurde Verdis Werk nicht nur in der Kirche, sondern auch im Konzertsaal aufgeführt – eine Tradition, die bis heute anhält. Denn nicht Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung sind die zentralen Themen dieser Messe, sondern die Suche des Menschen nach Trost und seine Auseinandersetzung mit dem Tod. So verwundert es nicht, dass die Komposition inzwischen auch den Weg auf die Tanzbühne gefunden hat. Christian Spuck hat seine Choreografie 2016 für das Ballett Zürich geschaffen und sie als designierter Intendant des Staatsballetts nun nach Berlin gebracht. Die Premiere am 14. April 2023 in der Deutschen Oper endete im Triumph für das gesamte Team und darf als Hoffnungssignal für eine neue Ära des Staatsballetts gewertet werden.

© Serghei Gherciu

Ein großes Verdienst dieser Kreation ist die szenische, sogar choreografische Einbeziehung des Rundfunkchores Berlin (Einstudierung: Justus Barleben) und vier renommierter Gesangssolisten in das Tanzgeschehen. Der Klangkörper zählt seit Jahren zu den Spitzenensembles in der internationalen Chorlandschaft. So durfte man mit Recht eine erstklassige Interpretation der Messe erwarten und war dann auch überwältigt von der Klangfülle und Perfektion, vom dramatischen Ausdruck und der makellosen Artikulation. Geradezu sprachlos aber machte die Präzision in der Umsetzung der szenischen Vorgaben. Absolut synchron agierten die Sängerinnen und Sänger – sei es als massiver Block, als kleinere Gruppen oder als lange Reihen. Wellenartige Bewegungen der Körper und Arme sind eine Markenzeichen des Choreografen – man hat sie schon in seiner Inszenierung von Wagners Der fliegende Holländer an diesem Haus gesehen. Für die Chormitglieder war dies eine ungewohnte Herausforderung, die sie jedoch mit Bravour meisterten.

Keine Schwachstelle ließ das Gesangsquartett erkennen. Die Sopranistin Olesya Golovneva imponierte mit ihrer Leuchtkraft in der hohen Lage und dem innigen Ausdruck, trug zum letzten Teil, dem „Libera me“, eine schwarze Robe mit langer Tüllschleppe (Kostüme: Emma Ryatt), welche sie wie eine Primadonna zu Verdis Zeiten erscheinen ließ. Unwillkürlich musste man bei diesem majestätischen Auftritt, dieser Diven-Allüre an Giuseppina Strepponi, die zweite Gattin des Komponisten, denken. Die Mezzosopranistin Annika Schlicht im schlichten schwarzen Kleid sang mit glutvoller, voluminös ausladender Stimme und mischte sich perfekt mit dem Sopran in den Duetten „Recordare“ und „Agnus Dei“. Ungemein kraftvoll intonierte der Tenor Andrei Danilov seinen Part, überstrahlte mühelos auch die gewaltigsten Orchesterfluten. Für seine Soli „Ingemisco“ und „Hostias“ könnte man sich lyrischere Valeurs vorstellen, die seinem stimmlichen Naturell freilich weniger entsprechen. Der Bassist Lawson Anderson komplettierte das Quartett mit einer wunderbar weichen und resonanten Stimme, die im „Confutatis maledictis“ aber auch über gebührende Autorität und beschwörenden wie bedrohlichen Ausdruck verfügte. Nicholas Carter führte die Solisten, den Chor und das Orchester der Deutschen Oper Berlin zu einer grandiosen musikalischen Wiedergabe des singulären Werkes, welche für mich den Wert des Abends ausmachte.

Das Problem der Aufführung aus meiner Sicht war die Lichtgestaltung von Martin Gebhardt, der viele Szenen in einem diffusen Halbdunkel positionierte, Tänzer schemenhaft an den Wänden entlang schleichen ließ, selbst dem tröstlichen, ja jauchzenden „Sanctus“ das Licht verweigerte. Christian Schmidts Bühne mit schwarzen Wänden und einem von Asche bedeckten Boden sollte eine Totenmesse in ihrer Trauer, ihrem Schmerz und ihrem Schrecken ausreichend illustrieren. Ballettliebhaber wollen die Tänzer sehen – ihre Körper und ihre Gesichter.

© Serghei Gherciu

Spuck fand nicht für alle Teile zwingende choreografische Bilder, aber manche prägten sich ein in ihrer Erfindung und Originalität. Einen großen Anteil an deren Wirkung hatte Polina Semionova, die sogleich im eröffnenden „Requiem aeternam“ die Blicke auf sich zog und später in „Rex tremendae“ und „Agnus Dei“ mit ihrem Partner David Soares Pas de deux von starker emotionaler Beteiligung und körperlicher Vollkommenheit absolvierte. Im langen weißen Gewand gab sie am Ende eine in ihrem Schmerz, ihrer Trauer berührende Leidensfigur. Das choreografische Vokabular wechselt von statuarischem Schreiten und feierlichen Prozessionen über hektische Turbulenzen bis zu archaischen Posen und Stillstand. Viele Einzelaktionen von Tänzern zeigen Menschen in existentiellen Notsituationen, bei denen die Kräfte sie zu verlassen drohen. Andere leisten Beistand als Zeichen menschlicher Solidarität. Hervorzuheben sind hier Ksenia Ovsyanick, Weronika Frodyma, Iana Balova, Timothy Dutson, Konstantin Lorenz neben vielen anderen engagierten Interpreten. Besonderen Effekt machte der bislang solistisch kaum hervorgetretene Sacha Males, der im „Dies irae“ einen wilden Ausbruch von ungezähmter Energie und Furcht  einflößender Wucht bot, welcher die Schrecken der Verdammnis beklemmend illustrierte. Im letzten Teil wiederholt Verdi dieses Motiv und hier gelingt Spuck eine ähnlich starke Wirkung, wenn der Chor hinten zur Gemeinschaft vereint ist und die Sänger in panischer Angst mit den Armen schlottern. Dann senkt sich der Plafond über sie – nur ein Wesen überlebt die Katastrophe als personifizierte Hoffnung.

Bernd Hoppe, 15. April 2023


Deutsche Oper Berlin

Messa da Requiem

Giuseppe Verdi

Staatsballett Berlin

Besuchte Premiere 14. April 2023

Choreografie: Christian Spuck

Musikalische Leitung: Nicholas Carter

Orchester der Deutschen Oper Berlin