Berlin: „Hérodiade“, Jules Massenet

Zu Höhepunkten der jeweiligen Saison der Deutschen Oper Berlin werden regelmäßig, sei es zum Einläuten oder zum Ausklang einer Saison oder einfach, weil der große Saal wegen irgendwelcher Reparaturarbeiten nicht verfügbar ist, konzertante Opernaufführungen meistens unbekannterer Werke, manchmal solcher von reizvoller Musik, aber nicht inszenierbaren Inhalts. Oft ist die Besetzung eine besonders hochkarätige, weil die Stars sich von wochenlangen anstrengenden Proben entbunden sehen und sich zudem ganz auf den Gesang konzentrieren können. So erlebte das Publikum Verdis Ernani, Rossinis L’Equivoco stravagnate, Bellinis I Capuleti e i Montecchi, Donizettis Lucrezia Borgia, Meyerbeers Dinorah, Delibes‘ Lakmé oder Zemlinskys Eine florentinische Tragödie. In diesem Jahr nun stand Massenets Hérodiade auf dem Programm, die am 15. Juni Premiere hatte und am 18. Juni noch einmal wiederholt wird.

© Bettina Stöß

Von den vielen Opern Massenets haben sich nur Manon und Werther einen dauerhaften Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser erobern können. Die gab es allerdings noch nicht, als 1881 in Brüssel eine dreiaktige Hérodiade uraufgeführt wurde und 1884 die nun auch in Berlin zu erlebende vieraktige endgültige Fassung zum ersten Mal gespielt wurde. Der Ruhm Massenets gründete sich auf den heute fast vergessenen Le Roi de Lahore, der auch in Italien als Il Re di Lahore Furore und den Verleger Ricordi auf Massenet aufmerksam machte. Marcello Viotti führte übrigens das Werk im Venezianer Teatro Malibran auf. Der Mailänder Verleger wies Massenet auf das Sujet hin, das auch den französischen Dichter Flaubert interessiert hatte, dessen Einfluss auf das Libretto jedoch zu bezweifeln ist, das zwischen italienischem Libretto von Angelo Zanardini in Prosa über die französischen Verse von Paul Milliet und George Hartman zurück zu italienischen Versen eine abenteuerliche Reise unternahm, so wie zwar Merkmale der Grand Opéra überwiegen, aber auch  für die italienische Oper typische Formen nicht zu überhören sind.  Ein informationsreicher Artikel im Programmheft klärt darüber dankenswerter Weise auf.

Die Handlung ähnelt, da sich auch auf das Markus- und das Matthäus-Evangelium stützend, der der späteren Oper von Strauss/Wilde. Allerdings ist der Charakter der Salomé ein gänzlich anderer. Sie liebt Jean, Johannes den Täufer, aufrichtig und stirbt gemeinsam mit ihm, der nicht unempfänglich für ihre Reize ist. Nach dem Besitz Salomés giert auch hier Herodes, ist Hérodiade eifersüchtig auf die von ihr verbannte und tot geglaubte Tochter und herausgefordert durch  die Schmähungen des Täufers. Nachdem dieser enthauptet wurde, gibt sich Salomé selbst den Tod. Den Hintergrund bilden die Auseinandersetzungen zwischen alter und neuer Religion bei den Juden und deren Kampf gegen die römische Besatzung.

© Bettina Stöß

Enrique Mazzola, diesmal nicht mit knallrotem Brillengestell, sondern mit Krawatte und Einstecktuch derselben Farbe, leitete in gewohnter Weise mit leichter, aber bestimmender Hand, das Orchester zu elegantem, duftigem, aber wenn nötig auch zupackendem Spiel anhaltend. Vielfältig waren die Aufgaben des verstärkten Chores, den Jeremy Bines auf seine vielfältigen Aufgaben, so ein orientalisch verträumt klingendes Lied für die Damen und viel Martialisches für die Herren, bestens vorbereitet hatte. Phantastisch waren fast durchweg die Solisten, allen voran Etienne Dupuis als Hérode mit einem über alle Register hinweg ohne Brüche einheitlich gefärbtem Bariton, der in der Höhe beinahe schon tenoral strahlen konnte und der auch mit Aplomb eingesetzt nichts von seiner vokalen Contenance verlor. Auch die anderen tiefen Stimmen waren durchweg dazu angetan, Freude beim Hörer zu erwecken. Kyle Miller war ein so schlank wie eindringlich singender Hohepriester, Dean Murphy ein Vitellius  der ganz dunklen Farben, Marko Mimica der Heimkehrer, denn einst Ensemblemitglied und nun ein Weltstar, der seinen Ruhm als Phanusi mit Bassgewalt rechtfertigte. Den Jean sang Matthew Polenzani mit einem für die Partie recht lyrischen, aber durch und durch angenehmen Tenor, der vor allem durch seine Höhensicherheit für sich einnahm.

© Bettina Stöß

Das schönste Kleid von allen an diesem Abend hatte Sua Jo, die mit schöntimbrierter, verführerisch klingender Stimme die kleine Partie der jungen Babylonierin sang. Satte Mezzofarben in allen Stimmlagen und viel von Tragik umflorte Bühnenpräsenz hatte Clémentine Margaine, auch sie einst Ensemblemitglied und mit Carmen, Marguerite und Fídes Maßstäbe setzend, die viel dafür tat, dass man tatsächlich Hérodiade für das Zentrum des Bühnengeschehens halten konnte. Das ist eigentlich auch in dieser Oper Salomé, auch wenn mit Apostroph, denn sie führt die Ensembles an und hat die schönste Musik. Nicole Car nutzte ihre Chancen, spielte, soweit es die konzertante Form zuließ, und sang mit klarer, kühler, dabei lieblicher Sopranstimme, die mühelos in die höchsten Höhen kletterte und furchtlos auch dramatische Attacken bewältigte.

Wer am Besuch der beiden Aufführungen verhindert war/sein wird (am Sonntag, dem 18. Juni, ist noch eine Aufführung, und ihr Besuch wird dringend empfohlen) oder wen die Musik so fasziniert hat, dass er sie wiederholt genießen möchte, wird bald Gelegenheit dazu haben, denn Naxos/OEHMS hat die Konzerte aufgenommen und bringt die entsprechende CD auf den Markt.

Ingrid Wanja, 16. Juni 2023


Hérodiade
Jules Massenet

Deutsche Oper Berlin

Premiere der konzertanten Aufführung am 15. Juni 2023

Chorleitung: Jeromy Bines
Musikalische Leitung: Enrique Mazzola