Berlin: „La Sonnambula“

26.01.2019

Im 50er Jahre Mief

Das Regieteam (Inszenierung und Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock) hat seine erfolgreiche Produktion aus Stuttgart für die Deutsche Oper Berlin neu überarbeitet und einstudiert. Dabei fällt auf, wie intensiv es sich in die Quellenlage von Bellinis siebter Oper LA SONNAMBULA eingearbeitet hat. Man geht zurück auf das ursprünglich aus der Librettowerkstatt von Eugène Scribe stammende Szenarium zum Ballett „La Somnambule ou l’Arrivée d’un nouveau Seigneur“ und auf die darauf basierende Vaudeville Komödie „La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées“. So werden psychologische Schichten freigelegt, die man in anderen Inszenierungen kaum oder nur sehr verdeckt findet. Das auf den ersten Blick betuliche Stück aus den Schweizer Alpen erhält nun plötzlich die tief in menschlichen Abgründen wühlende Kraft eines Dramas von Ibsen, Strindberg oder, wie Sergio Morabito im Programmheft antönt, von Kleist. Zweifellos, der Text gibt das her und die langen, lyrischen Melodiebögen Bellinis erlauben ein Ausspielen von inneren Konflikten, von Subtext, von Zwängen, Neurosen und unterdrückten Bedürfnissen.

Der Einheitsbühnenraum von Anna Viebrock stellt einen weit in die Bühnentiefe reichenden Tunnel dar, eine Art Bunker-Réduit in den Alpen, Dorfsaal und Gaststube in einem. Durch einen Zwischenvorhang wird die Szene in Rodolfos Zimmer ermöglicht, mit einem miefigen Schlafsofa als Zentrum des Geschehens. Der Einheitsraum ist von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Neonröhren und nackte Glühbirnen erhellen ihn. An den Wänden reihen sich große Schränke, in die sich Amina und auch der Graf Rodolfo flüchten – „in and out oft the closet“- Metaphern für die düsteren, seelischen Geheimnisse und Ängste, auch der Schimmel, der sich an den Wänden bildet, spricht Bände. Gerade den inzestuösen Aspekt haben die Verantwortlichen wieder stärker in den Vordergrund gerückt, haben auch die leibliche Mutter Aminas, die einst vom Grafen vergewaltigt oder zumindest verführt wurde, wieder in die Handlung eingeführt. Sie erscheint als unheimlicher Geist in den Nachtwandelszenen der Amina, die Brust teilweise entblößt.

Die finale Nachtwandelszene Aminas ist einer ihrer Alpträume: Sie fühlt sich schuldig wegen des vorehelichen Geschlechtsverkehrs mit Elvino, träumt von einer Fehlgeburt, befleckt, entwürdigt, ausgestoßen – ausgestoßen von dieser konservativen, klatschsüchtigen, biederen 50er Jahre Gesellschaft in ihren Kittelschürzen und Pullundern, blumigen Deux-Pièces und weißen Lederhandtäschchen (Teresa) oder Angora-Pullis (Lisa).

Mit detailgenauer Personenführung werden die Konstellationen offengelegt. Dabei erhalten vor allem Lisa und Teresa spannendes Profil. Alexandra Hutton und Helene Schneidermann machen das grandios, erhalten für ihre Darstellungen am Ende auch verdientermaßen viel Applaus. Alexandra Hutton gelingt die erste Szene stimmlich noch nicht ganz fokussiert, sie steigert sich jedoch im Verlauf des Abends zu einer fantastischen Lisa mit bezwingender szenischer und vokaler Präsenz. Helene Schneidermann gibt die durchtriebene und mit allen Wassern gewaschene Ziehmutter Aminas mit subtilem Spiel und charaktervollem Mezzo. Andrew Harris ist ein einnehmender Alessio, Jörg Schörner verleiht dem kurzen Auftritt des Notars Gewicht.

In den drei Hauptpartien erlebt man ein internationales Ensemble: Die aufstrebende russische Koloratursopranistin Venera Gimadieva als Amina, den mexikanischen Tenor Jesús León als Elvino und den kroatischen Bass Ante Jerkunica als Graf Rodolfo. Venera Gimadieva stellt keine Koloraturenprimadonna dar, sondern ist eine sehr fragile Amina. Das wird schon in ihrer Auftrittsarie deutlich, wobei die verschleierten Töne in der Höhe doch nicht ganz den Erwartungen und Ansprüchen, die man an diese Partie hat, entsprechen. Sie klingt von Beginn weg etwas müde, entrückt, was durchaus zur Rolle passt, aber Belcanto Melomanen doch eher enttäuscht. Sehr schön und fein intoniert sie das „Ah non credea mirarti“ der Finalarie, der Cabaletta „Ah non giunge“ hingegen mangelt es noch an durchschlagender Fulminanz, an Farbe und Spritzigkeit. Einen sehr hellen Tenore di grazia bringt Jesús León als Elvino ein. Stil- und höhensicher bewältigt er seinen Part, darstellerisch hervorragend. Keine sehr große Stimme, aber eine, der man gerne zuhört. Graf Rodolfo wird hier als graumelierter, attraktiver Womanizer gezeigt und Ante Jerkunica macht das hervorragend, singt mit rundem Bass und wohldosierter Sonorität.

Da der vorgesehene Dirigent Diego Fasolis sich während der Hauptprobe aus der Produktion verabschiedet hatte, übernahm Stephan Zilias das Dirigat. Er hatte zwar gemäß Aussage des Intendanten alle Proben begleitet, doch irgendwie schleppte sich vor allem der erste Akt etwas zäh dahin. Nun, Bellini gab zwar den Stimmen eindeutig den Vorrang, setzte das Orchester vorwiegend als dezenten Begleiter ein. Doch hatte man das Gefühl, dass aus dem Graben etwas gar wenige Impulse kamen, Zilias dirigierte zwar sehr sängerfreundlich, es wurde ordentlich gespielt, aber Glanzlichter fehlten. Auch die Koordination zwischen Bühne und Orchester blieb an diesem Premierenabend nicht immer makellos, vor allem im Finale I waren doch deutliche Wackler zu hören. Der Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) begeisterte einmal mehr mit der Kraft der individuellen Darstellung. Die Charaktere dieser rückständigen, eingeigelten Dorfgemeinschaft wurden plastisch erlebbar gemacht.

Am Ende gab es großen Jubel für die Sänger und den Dirigenten und gemischte Reaktionen beim Erscheinen des Regieteams.

Fazit: Wer Anna Viebrocks 50er Jahre Mief und die psychologisch fein ausgearbeiteten Regieansätze von Wieler/Morabito mag, wird begeistert sein. Musikalisch gibt es Luft nach oben.

Bilder (c) Bernd Uhlig

Kaspar Sannemann 27.1.2019