Auch noch in der 48. Vorstellung nach der Premiere im Jahr 2013 von Geheimnisvollem umhüllt ist der ehrwürdige Greis mit Rauschebart, der zu Beginn von Verdis Nabucco das gewaltige Rund der Spielfläche scheinbar mühelos öffnet und es nach dem letzten, verklungenen Ton wieder schließt. Giuseppe Verdi kann es nicht sein, denn der war bei der Komposition seiner dritten Oper noch keine dreißig Jahre alt. Sollte es der die menschlichen Schicksale lenkende Gottvater sein, dann entspricht dieser dem durchaus wehrhaften, allmächtigen Höchsten Wesen, dem sogar der sich selbst zum Gott ernennende Nabucco schließlich seinen Tribut zollt, kaum. Dreimal darf man raten, aber auch Keith Warner höchstpersönlich, der das Werk zwar in Szene gesetzt hat, aber vor zehn Jahren sich noch im besten Mannesalter befand, entspricht nicht der rätselhaft bleibenden Figur, deren Entschlüsselung der Besetzungszettel sich leider versagt.
Nabucco ist eine der Produktionen der letzten zehn Jahre an der Deutschen Oper Berlin, die nicht verärgert, weil sie das Werk auf den Kopf stellt oder sonst in einer ärgerlichen Weise entstellt, sondern die durch eine interessante neue Sicht zum Nachdenken anregt und dabei Handlung wie Personal intakt lässt. Die Kostüme (Julia Müer) sprechen von einer Verlegung in die Entstehungszeit, ihre Strenge von der des Glaubens der verfolgten Juden. Tilo Steffens hat eine Bühne mit riesigen, oft in Bewegung befindlichen Elementen geschaffen, die den Sängern viel Auf- und Niedersteigen abverlangen, viel Gedrucktes entfließt einer entsprechenden Riesenmaschine, Fahndungsfotos und Spruchbänder mit hebräischen Buchstaben werden von ihr immer wieder ausgespuckt und rufen beim Personal heftige Reaktionen hervor.
Kurz vor Schluss erfreute die Deutsche Oper ihr Publikum, das an diesem heißen Juliabend für ein Fast-Ausverkauft sorgte, mit einer zum Teil hervorragenden Besetzung. Eine sensationell Entwicklung hat der Bass Alexander Vinogradov vollzogen, der optisch noch immer die zierliche Jünglingsgestalt geblieben , der vokal jedoch inzwischen zum vor Autorität strotzenden basso profondo geworden ist, der den Zaccaria zum mindestens gleichberechtigten Gegner der Titelfigur werden lässt. Diese war dem slowakischen Bariton Dalibor Jenis anvertraut, der mit warmem, farbigem Timbre endlos erscheinende Phrasen zauberte, die Erinnerungen an einen Piero Cappuccilli wachriefen. Auf dem Papier gleichwertig ist beiden Sängern der Sopran Maria José Siri, die zu Beginn als Abigaille bei den zugegeben teuflischen Intervallsprüngen, die schon zum Ruin der Stimme der Strepponi beigetragen hatten, durch eine flache Höhe und eine farblose Tiefe irritierte, nur in der Mittellage verzaubern konnte. Nachdem der Sopran sich mit seiner großen Arie in ein ruhigeres musikalisches Fahrwasser gerettet hatte, wurden auch seine herausragenden Qualitäten, ein schillerndes, sehr kommunikatives Timbre voller Sinnlichkeit, wieder wahrnehmbar. Da hatte man schnell vergessen, dass zuvor im Ensemble die Fenena von Karis Tucker mehr vokale Präsenz gezeigt hatte als ihre Rivalin. Der Mezzosopran machte später auch mit einem sehr schön und eindringlich gesungenen Gebet wieder auf sich aufmerksam. Es ist nicht leicht, für die undankbare Partie des Ismaele einen hochkarätigen Tenor zu finden. Patrick Cook war nicht optimal in seine Rolle eingewiesen worden, stand oft an der Rampe herum, und sein Tenor irritierte durch ein recht weinerliches Timbre, nicht zu verwechseln mit der begehrten lacrima nella voce. Zufriedenstellend nahmen sich Padraic Rowan (Oberspriester), Gideon Poppe (Abdallo) und Maria Motolygina (Anna) ihrer Partien an.
Was wäre Nabucco ohne einen guten Chor?! Der der Deutschen Oper unter Jeremy Bines war nicht nur gut, sondern hervorragend, was Brio, Slancio und sichtbare innere Beteiligung angeht. Ihm nicht nach stand das Orchester, das Carlo Montanaro zu expressivem, auch mal knalligem, dem frühen Verdi gerecht werdendem Spiel anhielt. Nach dem letzten Ton wurden alle vom bis dahin recht zurückhaltenden Publikum durch lang anhaltende Ovationen belohnt.
Ingrid Wanja, 8. Juli 2023
Giuseppe Verdi: Nabucco
Deutsche Oper Berlin
48. Vorstellung nach der Premiere am 8. September 2013
Inszenierung: Keith Warner
Bühne: Tilo Steffens
Musikalische Leitung: Carlo Montanaro
Chorleitung: Jeremy Bines
Orchester der Deutschen Oper Berlin