Berlin: „Pique Dame“, Peter Tschaikowsky

Eine weite Spanne zwischen kaum ertragbaren und durchaus annehmbaren, ja goutierbaren Neuinszenierungen hat die Deutsche Oper Berlin im vergangenen Jahrzehnt auf ihre Bühne gehievt, wobei zu den ersteren La Forza del Destino, Die Meistersinger von Nürnberg und Simon Boccanegra, zu den letzteren Nabucco, I Vespri Siciliani und Anna Bolena gehören und sich nun zum Glück für Haus und Publikum auch noch Tschaikowskys Pique Dame gesellt. Sogar einer besonderen Fürsorglichkeit kann sich das Haus rühmen, wenn es am Vortag der Premiere seine Besucher darauf hinweist, sie müssten mit dem Abschießen einer Platzpatrone rechnen, was insofern zur Beruhigung beitragen kann, dass man mit einem gewissen Respekt gegenüber dem Libretto rechnen darf, dann auch gewillt ist, den Einsatz von Stroboskoplicht zu ertragen. Die Regie von Sam Brown erzählt die Geschichte so, wie sie zwar nicht von Puschkin, der Lisa sich verehelichen und Hermann wahnsinnig werden ließ, sondern von Tschaikowskys Bruder geschrieben wurde, und sie enthält sich mit gutem Recht aller gemütvollen Russenfolklore, denn Tschaikowsky war bekennender Westler und entschieden gegen slawophile Strömungen, außerdem ist Herman auch ohne das zweite N, das er bei Puschkin noch besaß, kein Russe, sondern Deutscher. Das Programmheft ist voller Fotos eines russischen Films von 1916, der Puschkins Werk zum Inhalt hat, ein Jahr, bevor die russische Adelswelt in den Abgrund der Oktoberrevolution stürzte, und in ungefähr dieser Zeit könnten auch Bühnenbild und Kostüme (Stuart Nunn) angesiedelt sein, so dass die alte Gräfin des Librettos und den Herman der aktuellen Produktion miteinander verbindet, dass beide in Gesellschaften, die sich selbst überlebt hatten, noch ihr Glück machen wollten. Entweder der tatsächliche Film oder eine Eigenproduktion der Deutschen Oper dient der Gräfin als abendliche Unterhaltung.

© Marcus Lieberenz

Eigentlich war Graham Vick als Regisseur vorgesehen gewesen, der tragischerweise an Corona verstarb. Sam Brown, der eng mit dem Regisseur zusammengearbeitet hatte, erschien als Garant für eine Produktion in dessen Geist, nicht aber als Testamentsvollstrecker oder gar Nachahmer. Selbst Bühnen- und Kostümbildner Stuart Nunn wusste kaum etwas über die Pläne von Vick. Er blieb der Produktion erhalten, die nun für die Gräfin nicht nur das eigentlich geplante Rokokokostüm in ihrem Fundus hat, sondern auch einen weit moderneren Seidenmantel. Während man sonst ein hinfälliges Weiblein mit schütteren weißen Strähnen unter der Perücke zu sehen bekommt, steht die Berliner Gräfin noch in Saft und Kraft und ist durchaus bereit zu weiteren erotischen Abenteuern, ehe sie der Herztod zu ereilen scheint.

Die heikelste Aufgabe für die Regie dürfte die Darstellung der Szene sein, in der Herman vom Geist der Gräfin das Geheimnis der Tri Karti erfährt, da in diesem Moment die ansonsten durchaus dem poetischen Realismus zuzuordnende Geschichte sich in rein romantische Gefilde verliert, wenn nicht von vornherein deutlich wird, dass lediglich der beginnende Wahnsinn ihm die Erscheinung vorgaukelt. Einer der Texte auf dem Vorhang nimmt mit einem Zitat Dostojewskis auf das Problem Bezug, sieht sich vor die Frage gestellt, ob es sich bei der Erscheinung der Gräfin um eine „Vision“ oder tatsächlich um die „Begegnung mit einer anderen Welt“ handelt. Indem Tomski am Beginn der Oper in der Kunstform Ballade davon berichtet hatte, liegt es nahe, sie als reines Traumgespinst anzusehen im Kontrast zu sehr realen Erscheinung der historischen Katharina der Großen. Diese wird allerdings auf dem Fest von Herman ohne ersichtlichen Grund angegriffen, nachdem das Schäferspiel, was man nicht bedauern muss, weggefallen ist. Es kann der Geist der Gräfin oder die nach einem Scheintod Wiederbelebte sein, die schließlich der letzten Szene leibhaftig oder auch nicht beiwohnt und in deren Armen Herman stirbt, während auf der zum Kasino herabführenden Treppe die Minuten zuvor im schlichten Hemdchen als Leiche hinweg geschaffte Lisa im Ballkleid und einmal ohne Brille dem Geschehen beiwohnt.

© Marcus Lieberenz

Das sind kleine Freiheiten, die sich die Regie erlaubt und die den Kern des Stückes nicht berühren, ebenso wenig wie die Verschärfung der sozialen Spannungen, wenn bereits die Kinder im ersten Bild auf einem weniger fein gekleideten Underdog herumtrampeln, eine ständig lauernde Aggressionsbereitschaft den ganzen Abend durchzieht, wenn man sich kurzzeitig in die Komische Oper versetzt sieht, wenn junge Männer in weiblicher Wäsche über die Bühne tanzen. Insgesamt handelt es sich um eine das Werk respektierende, auslotende, mit beeindruckenden Bühnenbildern bestechende Produktion, die nur manchmal etwas zu sehr in die Kitschkiste greift, wenn zum Beispiel Klein-Herman und Klein-Lisa Vorausahnendes zu spielen haben.

Immer an den Fingern einer Hand abzählen konnte und kann man die Tenöre, die in der Lage sind, einen Herman durchzustehen, vor allem wenn man nicht wie einst Wladimir Atlantov oder der Bulgare Peter Gougaloff Muttersprachler oder fast dasselbe ist. Martin Muehle, deutscher Abstammung, aber in Brasilien aufgewachsen und deshalb ohne Umlaut, ist bisher im italienischen Fach für die dramatischen Partien wie einen Des Grieux oder Andrea Chenier zuständig gewesen. Zu diesen zurückzukehren dürfte nach einer Reihe von Vorstellungen mit einem schonungslosen Einsatz der Stimme wie an diesem Abend erst einmal problematisch sein. Er fordert Bewunderung schon einmal allein dadurch heraus, dass er den Abend ohne Ermüdungserscheinungen durchsteht, sein Dauerforte imponiert, macht aber auch Angst und ist nicht durchweg notwendig. Weit mehr Agogik kann die Lisa von Sondra Radvanowsky einsetzen, wird vom Orchester unter Sebastian Weigle darin auch sehr schön unterstützt, so dass ihre große Szene an der Newa zum Höhepunkt des Abends gerät. Warum sie Brille tragen muss, bleibt ein Rätsel, der dauerlesenden Tatjana hätte man eine solche eher zugestanden. Eine angenehme Überraschung ist Lucio Gallo, dessen Bariton in der jüngeren Vergangenheit im italienischen Fach abgenutzt und grau klang und der nun als Tomskij gleich zweimal kraftvoll auftrumpfen kann. Balsamisch klingt die Stimme von Hausbariton Thomas Lehman als Jeletzkij, der die schönste Arie des Abends singen darf. Rollendeckend besetzt sind auch die anderen Offiziere mit dem Tschekalinskij von Chance Jonas-O’Toole, dem Saurin von Padraic Rowan besetzt. Karis Tucker konnte für das Lied der Pauline einen frisch klingenden Mezzosopran einsetzen, der von Nicole Piccolomini für die Gouvernante fiel rollengerecht weit strenger aus, und Oleksandra Diachenko konnte in der kleinen Partie der Mascha durchaus angenehm auffallen. Meistens die letzte Partie für Starsängerinnen ist die Gräfin, die mit zitternder Stimme sich ihren Erinnerungen hingibt, als alte, scheußliche Hexe das Gespött der Offiziere ist. Hanna Schwarz war angekündigt, Doris Soffel übernahm für die Absagende die ersten beiden Vorstellungen, für die weiteren gibt es noch keinen Ersatz. Optisch beinahe attraktiver als ihre Bühnenenkelin, bietet sie auch akustisch nicht die Vorstellung von Hinfälligkeit, keine zittrige, von Atemnot reduzierte Stimme. Das passt natürlich zum weiteren Verlauf der Handlung, wie sie hier geboten wird.

© Marcus Lieberenz

Der Chor der Deutschen Oper unter Jeremy Bines war gleich großartig in Spiel und Gesang, das Orchester unter Sebastian Weigle, der bereits nach der Pause begeistert begrüßt worden war, vom Schlussapplaus ganz zu schweigen, lotete die Schwermut der Partitur bewegend aus, spannte große Bögen und ließ Opulenz walten.

Ein Satz in einem Vorab-Interview mit Sam Brown hatte bereits Vorfreude erweckt, die nicht enttäuscht wurde: „Natürlich bin ich sehr nahe an Tschaikowsky dran. Ansonsten würde ich eine andere Oper inszenieren.“ Sein Wort in die Ohren aller Regisseure!

Ingrid Wanja, 9. März 2024


Pique Dame
Peter I. Tschaikowsky

Deutsche Oper Berlin

Besuchte Premiere am 9. März 2024

Inszenierung: Sam Brown
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Orchester der Deutschen Oper Berlin