Berlin: „Wozzeck“

Premiere am 5.10.2018

Hosen runter

Wer Büchners Woyzeck sehr und Bergs Wozzeck recht gut kennt, kommt vielleicht mit der Neuinszenierung von Ole Anders Tandberg gut zurecht, die nicht wie auch die wahre Geschichte vom unglücklichen Soldaten, der zum Mörder wird, in der Realität aber hingerichtet wird, in einer deutschen Garnisonsstadt im 19. Jahrhundert spielt, sondern in Oslo zum norwegischen Unabhängigkeitstag am 17. Mai in der Jetztzeit. „Keinen historischen Abstand aufbauen“ wollte der Regisseur und stellt einmal mehr dem Zuschauer ein Zeugnis intellektueller Unbedarftheit und mangelnden Vermögens aus, sich in die Probleme von Menschen anderer Zeiten hineinzuversetzen. Stattdessen mutet er ihm jedoch zu, die vielfältigen, teilweise geheimnisvollen Naturschauplätze im Einheitsbühnenbild von Erlend Birkeland, einem Kasinosaal oder ähnlichem, (ganz modern, denn es gibt bereits ein Behindertenklo) zu erahnen, während Kostümbildnerin Maria Geber den Protagonisten in einen schicken Maßanzug mit Schlips und Kragen gewandet, und auch Marie kann sich über mangelnden Chic ihres Trenchcoats nicht beklagen.

Als wären Bohnenessen und die ewige Ermahnung zum Gemächlichsein durch Doktor und Hauptmann nicht bereits genug Qual für den armen Wozzeck, muss er in dieser Produktion auch noch das Schamhaar der Kameraden, die mit heruntergelassenen Hosen auf der Bühne stehen, rasieren, wohl eine wahre Sisyphusarbeit, denn einige Szenen weiter ist es bei einem Nackedeitanz bereits wieder üppig nachgewachsen. Auch Wozzeck selbst muss blankziehen, wenn ihm der Doktor mit allerlei Gerät im After herumzufummeln scheint. Schließlich entledigt sich auch noch Marie ihres Unterhöschens, ehe sie in Richtung Tambourmajor eilt.

Bereits vor Beginn und zwischen den Akten sieht man das Gesicht Wozzecks, d.h. Johan Reuters, riesig auf den Vorhang projiziert und traut ihm die Wehr- und Hilflosigkeit, das Vergrübelte und Wahnvorstellungen Verfallene nicht zu, dem Sänger wird dadurch eine glaubhafte Verkörperung der Figur eher schwerer gemacht als erleichtert. Durch die Verlegung in die Jetztzeit geht auch die Alternativlosigkeit seines Schicksals verloren. Und den fröhlich die norwegischen Fähnchen schwingenden Choristen mag man erst recht nicht die Grausamkeiten und Obszönitäten zuschreiben, die sich auf der Bühne abspielen.

Auch im Gespräch mit dem Dramaturgen des Hauses im Programmheft kann der Regisseur nicht davon überzeugen, dass es diese Zeit und dieser Ort sein mussten, und wenn man das im Vergleich zum Original eigentlich freundlichere Ambiente und die humanere Gesellschaft, was Tandberg der seinen doch wohl nicht absprechen will, durch allerlei Kruditäten auszugleichen versucht, dann ist das alles ebenso überflüssig wie der Entschluss, den sogar in der Musik wahrnehmbaren Tod durch Ertrinken durch das Aufschneiden der Pulsadern zu ersetzen. Dass der Zuschauer in Großaufnahme miterleben muss, wie vom Doktor einem Lurch ein Beinchen abgeschnitten wird, erhält seinen immerhin versöhnlichen Ausgang dadurch, dass er selbst eines Fingers verlustig geht. Da jedoch an der Substanz des Stücks, am Charakter der Figuren nichts Wesentliches verändert wurde und Wozzeck nicht den Beliebtheits- und Bekanntheitsgrad von Carmen hat, gab es diesmal keinen Aufstand des Publikums, sondern freundlichen Beifall für das Regieteam.

Weitaus stärker fiel dieser für Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper aus, die die Spannung zwischen der Expressivität des Musikdramas und der strengen Einhaltung musikalischer Formen wirkungsvoll herausstellten und im zur Tonalität zurückgekehrten Schluss eine enorme Klangpracht entfalteten.

Der Chor unter Jeremy Bines ließ auch und gerade in den volksliedhaften Elementen viel Aggressivität vernehmen. Einen kraftvollen Heldenbariton setzte Johan Reuter für die Titelfigur ein. Man hätte sich manchmal eine zartere, von Verletzbarkeit kündende Stimme gewünscht. Alle Facetten zwischen unbändiger Lebens- und Liebeslust und reuevoller Frömmigkeit konnte Elena Zhidkova, einst Ensemblemitglied, mit ihrem Mezzosopran und ihrem intensiven darstellerischen Einsatz vermitteln. Draufgängerisch als Tambourmajor war Thomas Blondelle mit hochpräsenter Physis und ebensolchem Tenor eine adäquate Besetzung. Wunderbar sonores Bassmaterial setzte Seth Carico für den Doktor ein, während Burkhard Ulrich als Hauptmann weniger charaktertenorale Schärfen zur Verfügung standen, als man es von ihm gewohnt ist. Tröstlich hübsch klang der Tenor von Matthew Newlin als Kamerad Andres, in Frauenkleidern sang Andrew Dickinson den Narren, Annika Schlicht orgelte sich durch die Partie der Magret. Immer einen Tisch und einen Stuhl gab es für den Knaben (Levi Mica Weber), während ansonsten die Bestuhlung zwischen null, zwei, einige und unzählige wechselte, ein wundervoll realistisch wirkender Gaul entzückte und unverzichtbare Videos die unterschiedlichen Wetterlagen nicht immer textgetreu im Hintergrund dokumentierten.

Fotos Marcus Lieberenz

6.10.2018 Ingrid Wanja