Weimar: „November 1918“, Alfred Döblin, Stefan Lano

Vorstellung am 19.11.2018

Mammutabend zu einem Mammutwerk

Es war ein Mammutabend zum Mammutwerk der Uraufführung „November 1918“ im DNT Weimar. Wer das durchhalten wollte, der mußte gut ausgeschlafen sein, um vier Stunden spannendes, anstrengendes und auch unterhaltsames Theater mit operndimensionalen Einlagen durchzuhalten. Die DNT Weimar Uraufführung von Döblins „November 1918“ folgt, so sagt es das Programmheft dem vierteiligen gleichnamigen Buch.

Alfred Döblin schrieb „November 1918“ in den Jahren 1937-1943 im französischen und amerikanischen Exil. In den Kriegsjahren fand sich kein Verleger, erst 1950 lag eine erste dreibändige Ausgabe vor, 1978 erschien eine vollständige Edition. In einer zupackenden, knappen, oft witzig-lakonischen Sprache führt Döblin seine Romanhelden durch das innere wie äußere Chaos der Zeit. „November 1918“ ist ein literarisches Jahrhundertwerk. Es ist Alfred Döblins umfangreichstes Werk, aber über viele Jahrzehnte war es fast völlig vergessen. „November 1918“ ist ein historischer Roman, der auf über 2000 Seiten den Epochenumbruch in Deutschland schildert, der mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 begann und der Gründung der Weimarer Republik endet. Wo, wenn nicht in Weimar sollte also dieses Werk aufgeführt werden. Weimar widerspiegelt alle großartigen und alle verhängnsivollen Entwicklungen Deutschlands.

Der erste Teil zeigt „Bürger und Soldaten“ in den ersten zwei Wochen der Weimarer Republik. Döblin hat die Auflösung des deutschen Heeres selbst im Elsass miterlebt. Auf mehreren Erzählebenen wird die Frustration der Soldaten, der Widerstand der Bürger gegen die neue Zeit ausgebreitet. Der zweite Teil führt nach Berlin, wo sich die neuen politischen Kräfte etablieren und einander erbittert bekämpfen. Wir erleben Friedrich Ebert und Karl Liebknecht bei politischen Veranstaltungen und Debatten, im Kabinett und in Hinterzimmern, aber auch das Volk, das sich „verraten“ fühlt. Im dritten Teil geht es um die Kriegsheimkehrer, eine verlorene Generation, die in den Materialschlachten jede Illusion verlor, sich jetzt vergeblich müht, Anschluss an die neue Zeit zu finden, und allzu leicht auf die reaktionäre Rhetorik der neuen Rechten hereinfällt. Im Abschluss entwirft das Stück nach Döblin ein Porträt der Revolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ihr politisches Scheitern und ihr gewaltsamer Tod stehen für den missglückten Versuch, eine deutsche sozialistische Utopie zu verwirklichen.

Die Theaterfassung von André Bücker und Beate Seidel mit der Musik von Stefan Lano will die Tetralogie offenbar als Komplett-Fassung spielen. Das Bühnenbild hat Jan Steigert entworfen und die Kostüme Suse Tobisch. Die Räume und Atmosphären, die dabei entstehen, schaffen ein Zeit-Colorit, das den Zuschauer hineinnimmt in diese Zeit politischer und privater Umbrüche. Der Gesamteindruck bis zur Pause ist extrem deklamatorisch. Die Schauspieler sprechen mit Mikroports, was den Agitprop-Charakter noch verstärkt. Bei den Massenszenen ist das sicher richtig, aber bei den Dialogszenen nervt es irgendwann stark. Nach der Pause wird es vor allem in den Kriegsheimkehrer-Dialogen zwischen Maus und Becker einfach menschlicher. Ihre Sorgen und Hoffnungen, ihre Versuche irgendwie wieder Fuss zu fassen,sind nachvollziehbar gespielt. Die Szenen der politischen Entwicklungen rutschen manchmal ins Klamaukafte. Die Akteure von Militär bis zu den Sozialdemokraten wirken schablonenhaft und sind es auch von Kostümen.

Breit angelegt sind Eberts ängstliche, abwägende und oft auch wütende innere Monologe. Der Politiker sitzt auch in Berlin und telefoniert jeden Abend über die „Geheimlinie 998“ mit Hindenburgs Oberster Heeresleitung, die im Schloss Wilhelmshöhe in Kassel sitzt. Man belauert sich, versucht sich zu hintergehen und weiß doch, dass man sich im November 1918, noch vor dem Versailler Vertrag, nicht einfach ignorieren kann. Die politische Situation ist chaotisch, alles scheint möglich – sowohl eine Revolution des Proletariats nach dem russischen Vorbild von 1917 als auch eine reaktionäre Militärdiktatur. Eberts Paktieren führt zwar nicht zur letzteren Option, aber sehr wohl zum blutigen Scheitern der Revolution. Das alles zeigt die Bühne des DNT in epischer Breite. Nach Döblins Vorlage macht die DNT-Inszenierung die verborgenen Dimensionen der menschlichen Existenz sichtbar, wie die „dunklen Strahlungen“, von denen Beckers Lehrerkollege, der Naturwissenschaftler Dr. Krug spricht.

„November 1918“ erscheint so als schwarzer Spiegel, den das DNT Weimar auch der heutigen Zeit und den in ihr lebenden Menschen vorhält. Die Inszenierung entwickelt eine „Überrealität“ mit Bruchstücken einer literarischen „Sphärenmusik“ als Ausdruck höherer Vernunft. Beckers Ich-Spaltungen etwa können auf diese Weise sowohl psychisch als auch religiös aufgefasst werden, ohne dass sich diese Lesarten gegenseitig ausschließen.

„Sphärenmusik“ sind vor allem auch die Stefan Lano komponierten Rilke-Lieder, die musikalisch hörbar von Alban Berg inspiriert sind. Gerade diese Musik schafft sehr stark diesen „überrealen“ Eindruck. Gelungen sind auch die Chorauftritte sowohl als Sprechchöre als auch mit diversen bekannten Arbeiterliedern. Andres Reukauf hat die Soldatenlieder arrangiert und Jens Petereit hat den Chor fit gemacht. Max Landgrebe als Friedrich Becker und Thomas Kramer als Maus spielen ihre Rollen treffsicher. Auch Simone Müller als Hilde ist eine Frau ihrer Zeit. Die anderen Rollen sind dann aber sehr typenhaft und wenig individuell präsentiert. Alles in allem ist „November 1918“ eine sehens- und auseindersetzungswerte Inszenierung. Bestens geeignet auch für Politiker, vor allem von der SPD. Gerade für das heutige Verständnis vom Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts liefert diese Uraufführung einen Einblick in die Mentalität der deutschen Besiegten. Döblin sah viele Zusammenhänge lange vor jeder historischen Analyse. Die DNT Weimar Uraufführung von Döblins „November 1918“ macht diese Zeit aus verschiedenen Perspektiven erlebbar. Das ist schon eine Leistung.

Bilder (c) Nationaltheater / Candy Welz

Thomas Janda 20.11.2018

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