Weimar: „Candide“, Leonard Bernstein

Vorstellung 3.11. 2017r

Witzig spritzige Suche nach der besten Welt

Gleich zu Beginn wurde ich sehr optimistisch, dieser Candide-Abend im DNT wird ein musikalisches Feuerwerk werden. Aus dem Orchestergraben traf mich in der fünften Reihe ein Tsunami der Ouvertüren-Töne. Dominik Beykirch peitscht das Orchester mit dynamischer Präzision voran. Das wird höllisch-heiter, dachte ich schon mehr als aufgeputscht.

Dominik Beykirch hält diesen Schwung den ganzen Abend durch und die Weimarer Staatskapelle setzt die musikalischen Akzente so präzis, so pointiert, aber auch so feinsinnig und manchmal grazil, dass man mit Dauerlust folgen will. Bernsteins Ohrwürmer macht Beykirch so präsent, dass man sie auch noch mit nach Hause nimmt.

Von ihrem Lehrer, dem Philosophen Dr. Pangloss, sind Candide und seine Gefährtin Kunigunde in dem Glauben erzogen worden, in der »besten aller Welten« zu leben. Was das Leben in der realen Erprobung dann für sie bereithält, könnte kaum härter und schonungsloser sein: Einem Krieg durch Flucht entkommen, wird Candide von der Inquisition zum Tode verurteilt, kann der Vollstreckung nur mit letzter Not, aufgrund eines Erdbebens, entgehen. Kunigunde indes muss ihr Leben als Prostituierte fristen. Die beiden treffen sich wieder, werden unversehens reich, verlieren das Geld aber ebenso schnell wieder. Von dem, was bleibt, kauft Candide seinen Lehrer Pangloss von einer Galeere frei, auf der dieser Frondienste hatte leisten müssen. So sehr sich die an der Lehre vom „Guten in der Welt“ Geschulten von allen Übeln der Welt fernzuhalten versuchen: Überall stoßen sie auf die unmenschlichen Auswüchse menschlicher Schwäche – auf Ausbeutung, Mord und geistige Verirrung. Am Ende finden sich Candide und Kunigunde auf einem kleinen Landsitz wieder, wo sie ihr Resümee des Erlebten formulieren: „Es ist nötig, unseren Garten zu bestellen.“ In Candide kommen vor: der Preis, den ein Europäer für den Zucker zahlen muss, den er aus Übersee bezieht, das Erdbeben von Lissabon und wie die Kirche danach Juden verbrennen lässt, um Gott zu gefallen, und der Papst, wie er jährlich 3000 Jungen zu Kastraten verstümmeln lässt, um ihre süßen Stimmchen als Chorknaben zu erhalten und eben das sympathische Programm Eldorados: Schönheit und Luxus für Alle!

Regisseur Martin G. Berger jagt die Protagonisten um die Welt mit einer TV-SPIEL-SHOW und minimalistischen Gesten. Da sind z. B. die hübschen roten Eldorado-Schafe und die heile filmische Touristenwelt rund um das DNT-Gebäude. Was Dominik Beykirch für das Orchester ist, das ist Dascha Trautwein als Voltaire für die Dramaturgie der Inszenierung.

Als Erzähler und Conférencier ist sie zotig und zynisch, keck und elegant, fies und frech, dreist und drollig und bildet so Klammer und Rahmen zwischen und mitten in den Geschehnissen der moralischen Erkenntnisfahrt. Dabei geht sie auch mal Optimismus suchend, auf das Publikum in der ersten Reihe los. So steigert sie beständig den Höllenwitz des Stückes. Man lacht immer mit und ist doch oft geschockt.

Dascha Trautwein als Voltaire sorgt für schnoddrige Stimmung und erzielt gerade damit diese Absurdität in der Zuschauerwahrnehmung. Regisseur Berger sorgt für ständiges Wechselspiel mit dem Publikum. Da klettert Candide in die fünfte Reihe und wird dort mit Weißwurst und Bierflasche in die Armee gelockt und später muss er Spießrutenlauf absolvieren. Berger bezieht auch das Publikum mit ein, indem sich alle in Spiegelflächen auf der Bühne sehen. So ist jeder mittendrin in der Weltgeschichte der Scheinmoral und Schandtaten. Der Naivling wird aus moralischem Antrieb selbst zum Täter und tötet die Liebhaber seiner Kunigunde.

Artjom Korotkov (Candide) und Maria Perlt (Kunigunde) sind eine fantastische Besetzung. Auch die anderen Akteure wie Uwe Schenker-Primus (Pangloss) und Alexander Günther (Martin / Jacques / Don Issacar) spielen mit ungeheurem Witz und überbordender Spiellust. Genauso gut und pfiffig spielen die Darsteller der kleineren Rollen Nikolaus Nitzsche (Maximilian / Senor I), Caterina Maier (Paquett ), Stefanie Dietrich (Alte Frau), Jörn Eichler (Cacambo / Großinquisistor I / Vanderdendur / Pfarrer) und auch Jaesig Lee (Gouverneur / König Theodor), Oliver Luhn (Inquisitor II,Sultan Achmed), Andreas Koch (Inquisitor III / Zar Ivan / Hauptmann ), Klaus Wegener (König Stanislaus / Bayerischer König / Seemann), Xiaoyu Wei (König Karl Eduard ), Chong Ken Kim (König Hermann Augustus).

Regisseur Martin G. Berger hat mit seinem Team: Sarah-Katharina Karl (Bühne), Sabine Hartzsch (Kostüme), Friedrich Bührer (Choreografie), Bahadir Hamdemir (Video) eine Gestaltung entwickelt, die keinen Zuschauer teilnahmslos lässt. Man fühlt sich herausgefordert und hat doch Spaß dabei. Unterhaltsam sprudelt die Inszenierung vom Beginn bis zum Schluss. Da gibt es Slapstick und Revue in Perfektion, denn auch die Glamourgirls bezuckern. Zum Applaus erklingt auch noch einmal die Motto-Musik aus dem Orchestergraben. So endet ein bitter-zynischer Unterhaltungsabend noch mit einer Quasi-Revue-Zugabe. So viel treffende szenische Umsetzung, so viel spritzige Musik, so viel gelungene Theatereffekte, so viel stimmiges Spektakel und das alles um eine luziferische Wette mit Höllenspaß präsentieren. Wirklich beeindruckend spielt auch der Chor mit, ob bigotte, hysterische oder wunderselige Stimmung, alles gelingt ihnen enorm plastisch.

Voltaire entwirft keine Gesellschaftskritik, sondern eine Kritik am Autoritätsglauben, am Optimismus derjenigen, die naiv auf das Gute in der Welt und im Menschen vertrauen. Voltaires Grundaussage wird durch Regisseur Martin G. Berger bestens in Szene gesetzt: Lass dich nicht auf leere Versprechungen ein! Vertraue auf deine eigene Wahrnehmung und bilde dir dein eigenes Urteil und bedenke, jede Macht ist vergänglich.

Und diesen Gedanken hat Bernstein in so spritzige Musik gepackt. Und das DNT-Weimar führt das so gelungen auf. Was will man mehr? Da muss man hin!

Bilder (c) Vincent Leifer

Thomas Janda 9.11.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)

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Weitere Aufführungen: 19. 11., 10. 12. und 26. 12. 17 sowie 12.1. 18

„the one and only!“ – OPERNFREUND CD TIPP