Amsterdam: „Fürst Igor“

23.2.2017

TRAILER

Eine sehr selten gespielte Oper in einer neuen Fassung von Dmitri Tcherniakov

An der nun schon seit 25 Jahren durch Pierre Audi geleiteten Nationale Opera in Amsterdam gibt es jedes Jahr mindestens eine große Opern-Uraufführung (siehe Merker IV/2016). Man spielt im Allgemeinen mehr Werke von Schönberg und Stravinsky als von Verdi und Puccini und liebt originelles Repertoire. In letzter Zeit sind das vor allem selten gespielte russische Opern, so wie „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronia“ in einer viel beachteten Inszenierung von Dmitri Tcherniakov. In Zusammenarbeit mit der Metropolitan Opera in New York wird der russische Zyklus nun fortgesetzt und zwar mit dem ebenso selten gespielten „Fürst Igor“, der vor zwei Jahren in New York in Premiere ging (und damals auch in Wien im Kino zu sehen war).

Es ist es für jedes Haus ein großer Kraftakt, diese riesige Oper zur Aufführung zu bringen (ganze 4 Stunden – so wie „Boris Godunow“ oder „Chowantschtschina“). Zusätzlich gibt es bei „Igor“ viele unlösbare Probleme mit der nie vollendeten Partitur. Schon der Titel. Was ist besser: „Fürst“ oder „Prinz“ Igor? – Beide sind keine wirklich befriedigende Übersetzung für das russische „Knjas“, ein mittelalterlicher Stammesfürst. Welche der inzwischen schon zehn Fassungen? – Keine ist wirklich befriedigend, denn Alexander Borodin hat sich beinahe zwanzig Jahre mit dem Werk herumgeschlagen und es schließlich unvollendet liegen gelassen. Borodin war hauptberuflich Chemiker. Oper war für ihn zugleich ein Hobby und ein politisches Anliegen, das er mit den „Novatoren“ Mili Balakirew, Cesar Cui, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow teilte.

Die „Gruppe der Fünf“ (auch „das mächtige Häuflein“ genannt) wollte russische Nationalopern mit Rückgriff auf die russische Geschichte schreiben. Dies im Gegensatz zum „westlich dekadenten Tschaikowski“ (diesen Begriff gab es also damals schon…). Borodin vertiefte sich in das „Igorlied“, ein episches Gedicht aus 1138, vergleichbar mit dem „Nibelungenlied“ oder der „Chanson de Roland“, das 1793 in einem Kloster gefunden wurde und 1812 bei dem Brand Moskaus mit einer ganzen Bibliothek in Flammen aufging. Viele russische Dichter, Schriftsteller und Komponisten haben sich im XIXe Jahrhundert über das „Igorlied“ gebeugt – und stöhnten. Denn die ellenlangen Beschreibungen großer Reiterschlachten gegen die „Polowzer“ (oder „Polowetzer“) – die Handlung spielt in der Ukraine nicht weit vom heutigen Tschernobyl – sind kein einfacher Opernstoff.

Borodin vertiefte sich in die „orientalische Musik“ der blonden und blauäugigen Tartarenvölker, rekonstruierte alter Tonleitern und ließ sogar einige Streichinstrumente aus dem XIIe Jahrhundert nachbauen (so eine „Gudok“, eine Frühform der heutigen Balalaika). Er bat bei der Komposition mehrfach Rimski-Korsakow um Hilfe, der viele Notenblätter mit nach Hause nahm um alleine weiter zu arbeiten. Bei dem plötzlichen Tode Borodins (mit 54 Jahren an einem Herzversagen) war „Igor“ ungefähr zu ¾ „angelegt“, aber nicht einmal zu ¼ orchestriert. Nur 8 der 29 vorgesehenen Nummern waren vollendet.

Rimski-Korsakow setzte sich mit seinem Schüler Alexander Glazunow zwei Jahre an die Arbeit (so wie er es auch mit dem „Boris“ von Mussorgski getan hat) und vollendete die heute am meisten gespielte Fassung. Doch Dmitri Tcherniakov entschied sich nun für einen radikal anderen Weg: er ließ alles aus, was nicht nachweislich von Borodin war, um eine Art „Ur-Igor“ aufzuführen, so wie es hier in Amsterdam unter dem langjährigen Musikdirektor Hartmut Haenchen auch einen „Ur-Boris“ gab. Was blieb war ein Torso, dem zum Teil ganz andere Musik hinzugefügt wurde – nicht aus „Igor“ aber wohl von Borodin. Und um uns gänzlich zu verwirren, vertauschte Tcherniakov dazu auch noch den ersten und zweiten Akt (der vorgezogen wurde), strich den dritten Akt und veränderte das Ende des vierten Aktes. Damit verschwand das für dieses Werk so wichtige orientalische Kolorit und die berühmten „Polowetzer Tänze“, für die Borodin noch zu Lebzeiten eine eigene Orchester- und Ballettfassung geschrieben hatte, gingen in dem ganzen Getümmel irgendwie unter.

Aber gleichzeitig wurden die viele Brüche der unvollendeten Partitur grausam bloßgestellt. Tcherniakov versuchte nun diese Brüche zu „überbrücken“ mit Filmeinlagen, Eisensteins „Iwan der Schreckliche“ nachempfunden, die von einer Szene zur nächsten führen. Und um die ganze Handlung zu einem zeitlosen Traum zu stilisieren entwarf er ein auffälliges Bühnenbild, bestehend aus einer verfallenen Kirche und einem riesigen Mohnblumenfeld. Die 12.000 Mohnblumen auf der Bühne sorgten für bissige Kritik in New York, da sie anscheinend 170.000 $ gekostet haben – in einer Zeit wo die Metropolitan Opera andere Produktionen wegen Geldmangels absagen musste. Doch die Mohnblumen bildeten ein ideales Setting für die berühmte Liebesarie von Wladimir (die man öfters im Konzertsaal hört) und mutierten danach zu eindrucksvollen Blutflecken. Inmitten von Blut und Blumen umarmte Fürst Igor (Ildar Abdrakazov) seine junge Frau Jaroslawna (Oksana Dyka), seinen in die Schlacht ziehenden Sohn Wladimir (Pavel Cernoch) und dieser wieder seine Geliebte Kontschakowna (Aguna Kulaeva). Doch da wir in den Filmeinlagen gerade gesehen hatten, wie Igor seinen gefallenen Sohn Wladimir auf dem Schlachtfeld beweint hatte, mutiert der ganze Akt in eine morbide Vorahnung Igors. Dramaturgisch sicher interessant, aber musikalisch recht problematisch.

Schön, dass das lange Ballett am Ende des zweiten (nun ersten) Aktes, das Itzik Galili üppig für 34 Tänzer choreographierte, nicht gestrichen wurde. Über einige andere Striche konnte man sich nur wundern. Denn sie sorgten dafür, dass der nunmehr zweite und dritte Akt mit den riesigen Chorszenen furchtbar monochrom wirkten. Das lag sicher nicht an dem Koor van de Nationale Opera, der 2016 in der Opernwelt-Umfrage wieder zum besten Opernchor gewählt wurde. Zu Recht, denn was dieser Chor auf der Bühne leistet ist teilweise phänomenal. Auch noch in den wildesten Saufgelagen und Vergewaltigungsszenen – teilweise sehr realistisch inszeniert – wird immer noch sauber gesungen. Der Chor scheint sogar noch an Präzision gewonnen zu haben seitdem die Taiwanesin Ching-Lien Wu die Chorleitung übernommen hat. Dass der Abend monochrom und lang wurde, lag – neben dem wilden Eingreifen in die Partitur – vor allem am Dirigenten. Der junge Stanislav Kochanovsky dirigierte deutlich das Rotterdams Philharmonisch Orkest – das schon oft unter der Leitung von Valery Gergiev Werke von Borodin gespielt hat – und schaffte es die riesigen Massen zusammen zu halten.

Doch das war schon alles. Musiziert hat er – zumindest für unsere Ohren – wenig. Und ihm fehlte die Autorität, um die Sänger zu führen. Gleich zu Anfang begann Ildar Abdrakazov seine erste Arie so laut, alsob er noch immer in der riesigen Met stünde. Daraufhin sang Pavel Cernoch seine Liebesarie genauso laut – wir haben sie noch nie so unnuanciert gehört. In der Reihe 9 des Parketts bekamen meine Sitznachbarn und ich wirklich Kopfschmerzen. Und als am Ende des Abends Oksana Dyka in der langen Arie der Jaroslawna beweinte, das nun alles zerstört sei, wunderte man sich dass sie gewisse Töne verschieden einfärbte. Denn Farben hatten wir bis dahin kaum gehört. Die hat Borodin jedoch nachweislich oft und gerne komponiert – man braucht nur seine Lieder, Quartette und Sinfonien anzuhören.Wie dem auch sei, wir haben uns gefreut, dieses so selten gespielte Werk endlich auf der Bühne zu erleben. Nun freuen wir uns auf die ebenso selten gespielte „Sadko“ von Rimski-Korsakow, im Juni in Antwerpen und Gent. Wir sind gespannt!

Waldemar Kamer 27.2.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

Fotos (c) Matthias Baus / De Nationale Opera