Hamburg: „Brahms, Szymanowski, Strauss“, Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko

„Die Ouvertüre fließt in einem ununterbrochenen Zuge, ohne Tact- und Tempowechsel dahin, durchweg erfüllt von einer pathetischen Ernsten, der mitunter das Herbe streift“, so Eduard Hanslick über Brahms´ „Tragische Ouvertüre – dem Hamburger stand der gestrenge, oft selbstgefällige Kritikerpapst ja ausgesprochen wohlwollend gegenüber. Und so möchte man seine Worte hier einmal als treffend wahrnehmen, denn tatsächlich prägt das Werk, das so ein bißchen wie ein Symphoniesatz daherkommt, eine ernste, zuerst düstere Stimmung, die aber durchzogen ist von kraftvollen Schlagwerk- und Tutti-Einsätzen, die dem Ganzen eine feierliche Größe und Wuchtigkeit geben. Ja, Brahms spielt hier mit Pathos, aber das wirkt nicht übersteigert; auch bricht er das namengebende Tragische immer wieder durch hoffnungsvollere, tröstliche Aspekte. Aber es gibt auch ausgesprochen melancholisch-lyrische Passagen.

© Lena Laine

Mit diesem von der Spieldauer her überschaubaren Werk erobern sich die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko sofort die Herzen der Hamburger am Abend des 23. Februar im Großen Saal der Elbphilharmonie. Das Orchester spielt mit wunderbar lebhaftem Tempo, dabei stets exakt und mit Fülle. Petrenkos Dirigat ist gemessen, oft steht er gerade, die Hacken aneinander, sein Gestenspektrum reicht von sparsam-zackig, nur mit einzelnen Fingern angedeutet, bis ausgreifend und mit Bogenfiguren, als würde er eine Skulptur formen. Auffällig sind seine häufigen Hinwendungen zu den einzelnen Instrumentengruppen oder Solisten mit sehr genauen Einsatzanweisungen – da ist keine Regung zu viel oder gerät in die Nähe des Posierens. Die Musik elektrisiert den Dirigenten zuweilen so sehr, daß sein erhobener Taktstock zittert.

Das zweite Werk des Abends ist das in den tiefsten Wortsinnen zauberhafte, sinnlich aufgeladene Erste Violinkonzert von Karol Szymanowski, des Begründers der polnischen Moderne. Auch in diesem Werk, das wie in ein symbolistisches Gemälde voller geheimnisvoller, nie ganz völlig offengelegter Anspielungen und einem diffusen, lichtvollen Flirren durchzogen ist, zeigt sich ganz deutlich der Einfluss von Richard Strauss, vor allem aber von Debussy und Strawinski. Die Verwandtschaft zu Skrjabin ist ebenfalls spürbar, denn hier wird nicht mit pastos aufgetragenen Strichen gespart, aber stets ist alles voller Empfindsamkeit und oft berückender Zartheit. Zuweilen glaubt man, durch einen verwunschenen Wald zu streifen.

Gerade das weiß die Geigerin Lisa Batiashvili mit größter Finesse umzusetzen, denn sie hebt die feinnervigen Linien hervor und lässt sie golden vor einem vielfarbigen Hintergrund aufstrahlen. Diese Musik ist stark suchtgefährdend, zumindest für solche Hörerinnen und Hörer, die für diesen schwül-spätromantischen Farbenreichtum empfänglich sind.

Die Violinistin hat ein feines Gespür für spannungsreiche Bögen und eine fein austarierte Korrespondenz mit dem reich besetzten Orchester; sie lebt ganz in diesen Klängen und biegt ihren Körper immer wieder wie eine junge Birke, ohne daß dies aufgesetzt wirkt.

Formell ist das Stück relativ frei und setzt sich aus lebhaften und ruhigeren Passagen zusammen. Ein Höhepunkt des Konzerts ist die Kadenz, eine feinsinnige Frucht der Zusammenarbeit des Komponisten mit dem polnischen Geiger Paweł Kochánski. Wie Pfiffe wirken rasch in die Höhe gerissene Töne und an Vogelrufe erinnern die mit beachtlicher Geschwindigkeit gespielten minimalen Tonfolgen. Die Rhythmik ist mitunter fordernd und mitreißend, die magische Chromatik wirkt verführerisch wie der Blick der Sünde in Franz von Stuck gleichnamigem Gemälde. Petrenkos freundlicher Blick spiegelt sich in den Gesichtern der Orchestermitglieder, seine Arme formen weite Kreise und möchten den fabelhaft spielenden Klangkörper fast umarmen.

Nach einem aufregenden Orchestereinsatz von aufragender Schönheit klingt das berückende Stück in augenzwinkernder Bescheidenheit aus, stiehlt sich gleichsam nach all den großen Gesten aus dem Raum – für diejenigen, die die Komposition nicht kennen, ein überraschendes Finale!

Leider gar nicht überraschend war mal wieder die Störung durch einen Handy-Klingelton in einer Fermate der Kadenz. Man mag hoffen, daß die Umsitzenden den Besitzer oder die Besitzerin des Daddel-Dings mit einem passenden Knappertsbusch-Wort gestraft haben.

Bei Strauss´ „Sinfonia domestica“ wird ein Mann die Fußballergebnisse ansehen und ein Pärchen auf den höheren Reihen von Etage 12 andauernd tuscheln. Was suchen solche Leute in einem klassischen Konzert? Wenn man, was in diesen Fällen wahrscheinlich ist, Elphi-Karten geschenkt bekommt und keine Lust auf das Konzert hat, sollte man sie lieber Leuten weitergeben, die sich solche Plätze nicht leisten können und wirklich Interesse an der Musik haben.

Abschließend aber zu Szymanowski – warum werden so selten Werke dieses faszinierenden Komponisten aufgeführt? An mangelnder Begeisterung kann es wenigstens an diesem Abend nicht liegen, denn das Publikum ist entflammt und spendet herzlichsten Applaus für die virtuose Wiedergabe durch die Solistin, das grandiose Orchester und seinen sympathischen Dirigenten, der Lisa Batiashvili einen großen Teil des Beifalls ganz alleine überläßt.

© Lena Laine

Richard Strauss´ großformatiges Familiengemälde, seine „Sinfonia domestica“, ist ein breit angelegtes Werk von inhaltlich denkbarer Bescheidenheit und musikalisch von liebenswerter Harmlosigkeit. Es ist nämlich nichts anderes als ein Vater-Mutter-Kind-Spiel mit Riesen-Orchester, in dem den Akteuren die entsprechenden Themen zugewiesen und miteinander kombiniert werden. Der Vater erscheint, wie in der Partitur angegeben, zumeist „gemächlich“, die Mutter „sehr lebhaft“ und das Kind wird in einer naiv-lieblichen kleinen Melodie wiedergegeben. Meisterhaft gestaltet Strauss mit Variationen dieser Themen die Reaktion der Verwandten auf den Nachwuchs, und für einen Tonsetzer, der nach eigener Auskunft den Unterschied zwischen Pilsener und Kulmbacher Bier klanglich umsetzen konnte, ist es ein Leichtes, einen handfesten Familienkrach mit anschließender Versöhnung in Form einer Doppelfuge zu komponieren. Dem geht die Beschreibung des häuslichen Schaffens, einer Liebesszene, der Nacht mit Träumen und Sorgen, dem Wecken durch die Uhr und Kindergeschrei voraus.

Eigentlich ist das Stück ein Selbstportrait, denn Strauss zitiert sich in einer Tour selbst. Don Juan, Till Eulenspiegel und Zarathustra sind offenbar gern hereingebetene Hausgäste, auch die übrigen Tondichtungen haben ihre Spuren im Hausflur hinterlassen.

Im Folgejahr 1905 wird Strauss in die dunklen Tiefen familienpsychologischer Abgründe steigen und seine „Salome“ schaffen, weitere vier Jahre später wird es mit der „Elektra“ noch schwärzer und blutiger. Wie beruhigend, daß die Familie Strauss, auch wenn es bei ihr, wie die Tutti-Wucht gerade im Finale schließen läßt, hoch hergeht, keine Familientherapie braucht. Die Komposition einer eigenen Symphonie zumindest dürfte dem Papa für die Verarbeitung von häuslichen Sorgen und Konflikten genügt haben.

Das Orchester in jedem Falle hat viel Vergnügen an der Umsetzung dieses klingenden Tags bei Straussens; das Lächeln des Dirigenten beantworten die Orchestermitglieder, von denen einige ja auch beachtliche Solo-Karrieren hingelegt haben, mit Grinsen und Strahlen.

Beim stürmischen Beifall nach diesem Werk haben sich die meisten im Großen Saal schnell von ihren Plätzen erhoben und applaudieren stehend mit vielen „Bravo“-Rufen. Eigentümlich nur, daß das Orchester ziemlich rasch den Saal verläßt – sie hätten sich noch einige weitere Minuten feiern lassen können.

Andreas Ströbl, 25. Februar 2024


Hamburg
Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie

Konzert mit Kirill Petrenko, Lisa Batiashvili und den Berliner Philharmonikern

23. Februar 2024

Johannes Brahms, Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81
Karol Szymanowski, Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 op. 35
Richard Strauss, Sinfonia domestica für großes Orchester F-Dur op. 53