Budapest: „Don Carlos“

packende Inszenierung, die kaum Wünsche offenlässt

Gespielt wurde die ursprünglich fünfaktige französische Fassung der Oper in der italienischen Übersetzung von Angelo Zanardini (1820-93) und Achille de Lauzières (1818-90), die sogenannte Modena-Fassung von 1886 unter Verzicht auf das Ballett. Der aus Bremen stammende deutsche Regisseur Frank Hilbrich (1968*), seit dem Wintersemester 2013/14 Professor für szenischen Unterricht an der Universität der Künste in Berlin, verlegte die Handlung in die Zeit des Totalitarismus im Europa des 20. Jhd. Auf einer riesigen, die gesamte Bühne umfassenden weißen Treppe rollt ein Mönch (Karl V.) die in einem Netz eingepackten Bücher, die zur späteren Verbrennung bestimmt sind, schwerfällig die Treppen des Einheitsbühnenbildes von Volker Thiele hinauf. Don Carlo trifft dann auf Rodrigo, Marquis Posa und gesteht ihm seine Liebe zu seiner nunmehrigen Stiefmutter Elisabeth. Die Hofdamen treten danach alle rot gekleidet mit einem Cape über den Schultern und schwarzem Mund-Nasen-Schutz auf und singen.

Natürlich lässt es sich da kaum vermeiden, wenn einige Masken unter die Nase rutschen… Prinzessin Eboli trägt ein weißes Negliee mit bodenlangem blauen Longblazer und weinrotem Gilet, auf und lässt ihre maurische Schleierarie erklingen. Ihr Page Tebaldo trägt eine schwarze Uniform aus Kunstleder (Kostüme: Gabriele Rupprecht). Beide treten natürlich ohne Masken auf. Die Hofdamen entkleiden genüsslich den gutaussehenden Pagen und vergewaltigen ihn. Man sieht also, dass „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ nicht immer nur von Männern an Frauen verübt wird… Danach tritt Elisabeth in schwarzem tiefdekolltiertem Kleid mit weißem Schulterbesatz, langen schwarzen Stiefeln, der obligaten Halskette mit Kreuz und der schwarzen Kleinen Jackie 1961 Hobo-Tasche von Gucci (Preis 1.980,– Euro), in Begleitung ihrer Aufwartedame, Gräfin Aremberg, auf. Carlo erneuert seinen Liebesschwur, die allzu stürmische Annäherung ihres nunmehrigen Stiefsohnes, dem mit schwarzer Lederhose, schwarzem Ruderleibchen und dunkelblauem Blazer mit hoch gekrempelten Ärmeln bekleideten Infanten Don Carlo, kann sie gerade noch abwehren ehe der gar nicht so sittenstrenge König Philipp II. auftritt.

Bei Schiller und bei Verdi ist dieser ein älterer Mann. Folgt man jedoch historischen Quellen, so war der zweifache Witwer König Philipp 2. (1527-98) erst 32 Jahre alt als er am 2.2.1560 in Toledo in dritter Ehe die gerade erst 14 Jahre alte Elisabeth von Valois (1545-68*) ehelichte. Die Ehe soll übrigens glücklich gewesen sein! Er entlässt Gräfin Aremberg in Unehren, da sie bei der Unterredung zwischen Elisabeth und Carlo nicht anwesend war. Diese übergibt ihre Mantilla der Prinzessin Eboli, mit einer der Gründe, dass diese von Carlo, der ihr fälschlicher Weise seine Liebe erklärt, nicht erkannt wird. Gedemütigt sinnt sie auf Rache und kann auch nicht durch den herbeigeeilten Rodrigo gezähmt werden. Während ihres Terzetts treten dann als Hunde verkleidete Statisten in schwarz-glitzernden Kostümen auf, die dann während des Umbaus zum Autodafé wieder bellend erscheinen und den Ketzern ihre gebündelten Schriften abnehmen, die der Bücherverbrennung zugeführt werden. Dann ziehen sie den auf den Stufen mit Kopf zum Orchestergraben auf dem Rücken liegenden Opfern noch die Schuhe aus und stellen damit einen Bezug zur Ausstellung im Holocaustmuseum her.

Carlo nähert sich seinem Vater mit einer Abordnung flandrischer Abgesandter und bittet ihn um Hilfe für Flandern und Brabant, während an den Chor Zetteln mit der Aufschrift „HELP!“ verteilt werden, auf deren Rückseite einige Katastrophenbilder der jüngeren Vergangenheit (Holocaust) und Gegenwart (u.a. Feuersbrünste und Explosionen) abgebildet sind und einige Choristen halten sogar die schwarz-gelbe Flagge mit dem flämischen Löwen in die Höhe. Zu den Klängen der „himmlischen Stimme“ schneiden dann die in Hundemasken steckenden Schergen des Großinquisitors die Zungen der gefangenen Ketzer heraus. Nach der Pause sehen wir König Philipp in zärtlicher Umarmung mit Eboli, Elisabeth hält noch immer zwei exemplarische Katastrophenbilder in ihren Händen, während sich die geschundenen Ketzer erheben und die Bühne seitlich verlassen. Der Mönch rollt wieder eine „Bücherkugel“ einige Stufen hinauf. Dann hebt Philipp zu seiner langen Arie an, in der er beklagt, nie von Elisabeth geliebt worden zu sein. Ein hinkender Graf Lerma, auf einen Stock gestützt, kündet den Auftritt des blinden Großinquisitors mit weißem Stock und schwarzer Brille an. Begleitet und gestützt wird dieser wieder von der bereits bekannten Hundemeute. Nach seinem Abgang erscheint Elisabeth und beklagt den Raub ihrer Schatulle, in dieser Inszenierung ist es freilich ihre Handtasche.

Eboli gesteht, diese geraubt zu haben und die Geliebte Philipps zu sein und wird von Elisabeth vor die Wahl gestellt: Kloster oder Exil. Eboli entscheidet sich fürs Kloster, will aber zuvor noch ihren geliebten und unerreichbaren Carlo retten. Rodrigo besucht den inhaftierten Carlo, der an den Füßen aufgehängt ist und in dieser senkrechten Position (!) zunächst singen muss, bis er endlich von den „Hundewächtern“ aus seiner misslichen Lage befreit wird und auf die Stufen kopfabwärts hingelegt wird. In dieser Position fällt das Singen sicherlich um eine Nuance leichter. Schließlich aber vertreibt Rodrigo die Schergen und kann nun endlich stehend sein Finale mit Carlo singen. Von einem Bauchschuss tödlich getroffen sinkt er blutüberströmt nieder und haucht sein Leben aus. Philipp erscheint und reicht Carlo das Stilett, welches ihm Rodrigo vor dem Autodafé abgenommen hatte. Das aufgebrachte Volk, das seine Freilassung fordert, kann nur durch den Auftritt des allgewaltigen Großinquisitors in seine Schranken gewiesen werden und zieht sich zurück. Wieder erscheint der Mönch (Karl V.) und hievt die „Bücherkugel“ auf das oberste Ende der Treppe hinauf, während ihn Elisabeth beobachtet. Die Kugel aber entgleitet ihm, rollt die Stiegen hinab und wird schließlich von Elisabeth in ihrem Lauf gebremst. Carlo tritt auf und trifft auf Elisabeth, die die flandrische Flagge glücklich in ihren Händen schwingt. Während ihres Duetts rollte der Mönch wieder die Bücherkugel die Treppen hinauf, als plötzlich Philipp und der Großinquisitor mit ihrem Gefolge und den Hunden auftreten. Erneut rollt die „Bücherkugel“ die Treppen hinab. Da erhebt der Mönch (Karl V.) seine mächtige Stimme, streckt Carlo seine Arme wie zum Schutz entgegen, zieht aber im letzten Augenblick ein Messer und ersticht ihn…

Regisseur Frank Hilbrich stellt das historische Leiden der unterdrückten Flamen und Ketzer jenem von Kriegsflüchtlingen und den Opfern des Holocaust gegenüber. Bei ihm wird die im Drama innewohnende Gewalt niemals ausgeblendet. So wird Elisabeth am Ende des Fontainebleau-Aktes entführt, während der Chor in einen rasenden Tanz verfällt. König Philipp nimmt Gräfin Aremberg auch den Ring weg, den ihr zuvor Elisabeth zum Abschied geschenkt hatte und zu Beginn der Kerkerszene hängt Carlo kopfüber in seinem Verlies. Die Protagonisten dieser Oper erfahren in der Inszenierung von Frank Hilbrich, dass sie mit all ihren persönlichen Qualen und Unterdrückungen stets Kräften und Mächten ausgesetzt sind, die sie nicht beeinflussen können, da sie außerhalb ihrer Einflusssphäre liegen. Der aus Uruguay stammende Tenor Gaston Rivero gefiel in der Rolle des naiven und letzlich zum Scheitern verurteilten Infanten Carlo. Er verfügt über ein formschönes Legato, klare Phrasierung und die erforderliche Ausdauer, um auch kopfüber oder am Rücken liegend singen zu können. Zsuzsanna Ádám als Elisabetta verfügrte über einen gleichmäigen warmen Sopran, bereit zur Attacke wie fähig zu einem wunderschönen Pianissimo in den höchsten Registern. Erika Gál als Eboli führte den Zusehenden einen regelrechten Gewaltakt vor Augen und Ohren bei ihrer Arie „O don fatale, o don crudel“, in der sie ihre Schönheit und ihren Stolz verflucht, nachdem sie von der Königin verstoßen wurde. Bass Gábor Bretz bot für den spanischen König Philipp II die nötige Wut und Arroganz, aber auch unerbittliche Kälte bis hin zur völligen Resignation angesichts der Drohung des Großinquisitors, ihn dem Tribunal zu übergeben.

Csaba Szegedi als Rodrigo, Intimus von Carlo, wurde zwischen der royalen und der Freundespflicht aufgerieben und schließlich der Staatsräson geopfert. Sein helltimbrierter Bariton entfaltete sich am eindrucksvollsten im Duett mit Carlo, kurz vor seinem bühnenwirksamen Abgang im Verlies. András Palerdi wurde als blinder Großinquisitor bei seinen zwei kurzen Auftritten von den Hunden begleitet und ließ dabei seine bedrohliche Bassstimme vernehmen. Géza Gábor gefiel als Mönch (Karl V.), der die Netzkugel angefüllt mit Büchern immer wieder die Treppen hinaufrollt und schließlich mit seinem gewaltigen Bass den ihm entgegenwankenden Carlo am Ende erdolcht. Melinda Heiter war ein spizbübischer Tebaldo mit gut geführtem Mezzosopran. In den kleineren Rollen ergänzten József Mukk als Conte di Lerma mit stabilem Tenor und Eszter Zemlényi als „Himmlische Stimme“ mit glockenhellem Sopran. Die stumme Rolle der Gräfin Aremberg, Intima von Elisabeth, wurde von Viktória Sebes überzeugend mit herzzerreißendem Schmerz beim Abschied erfüllt. Während der Vorstellung schwenkte die Kamera öfters ins Orchester und so sah man den Dirigenten und all jene Musizierenden, die ohne Einsatz ihres Mundes ein Instrument spielten, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Das Orchester der Ungarischen Staatsoper wurde von Balázs Kocsár umsichtig geleitet und ließ Verdis Magnum opus in einer gesamten Spieldauer von drei Stunden und zwanzig Minuten erklingen. Der Chor der Ungarischen Staatsoper war von Gábor Csiki bestens einstudiert und erklang – trotz Masken – verständlich, wobei sich die Zusehenden erst daran gewöhnen müssen, dass die Choristen mit Maske sangen. Das gespenstisch wirkende Verbeugungsdefilée am Ende der Aufführung und ohne Publikumsapplaus trübte ein wenig die Freude an einer lediglich gestreamten Aufführung. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese Aufführung auch mit Publikum regen Zustrom finden wird, da sie auch die Probleme unserer heutigen Zeit anspricht.

Harald Lacina, 23.1.

Fotocredits: Valter Berecz / Hungarian State Opera