Premiere Essen 13.10.2019
Doomsday in Russland
Achtung: Diese Inszenierung könnte ihr bisher freudvolles Dasein als Tschaikowsky Fan und ihr bisher ausgeglichenes Seelenheil beschädigen
Es gibt Wahrnehmungen, da möchte man als Kritiker schon beim – viel zu frühen! – Aufgehen des Vorhangs das Opernhaus sofort wieder verlassen. Es sind diese Situationen, die man schon hundertmal durchlitten hat und die mitverantwortlich sind, daß man dann im Alter sein Haar von einst schillernder Lockenpracht in schlohweiße Dürre gewechselt hat.
Dazu zählt ein Inszenierungskonzept der längst vergangenen 80er, als man öfter, egal ob Schauspiel oder Oper, sofort alle Personen auf der Bühne drapierte – gleich ob sie jetzt schon auftreten oder erst später. Diese Nichtagierenden sitzen dann meist gelangweilt bis belanglos am Rand herum und zählen imaginäre Fliegen an der Decke oder – was sich in dieser Produktion (Müllplatz hinter der Tschernobyl-Ruine) eher anbieten würde – imaginäre Riesen-Kakalaken auf dem Boden.
Genuss
Das in solchen Inszenierungen immergleiche AOK-Krankenhaus-Bettgestell gibt einem dann schon nach fünf Minuten den Rest. Also: Augen zu, der Herzkasper droht sonst, denn es gibt ja schöne Musik. Doch auch hier suche ich den Tschaikowsky-Sound, den ich so liebe, vergeblich. Aus den Tiefen der russischen Seelen kam diese Musik leider nicht – zumindest in meinen Ohren. Die Mehrheit des Pr-Publikums schien das allerdings anders gehört zuhaben.
Tomas Netopil ist kein Tschaikowsky-Dirigent des Herzens, der Emotionen, der Sentimentalität oder des doch so schönen Kitsches im Streicherschwelgen. Sein schon fast kammermusikalischer Ansatz langweilt. Diese Musik ergreift weder das Herz, noch bewegt es die Seele. Sie rauscht einfach vorbei. Auch schienen mir die Essener Philharmoniker etwas dünn besetzt. Also auch musikalisch nicht der erwartete Genuss. Der bärbeissige Rezensent hält es hier mit Tannhäuser: Dem ziemt Genuß in freud’gem Triebe, und im Genuß nur kenn ich Liebe! Hier gilt es allerdings meiner Liebe zur tschaikowskyschen Musik ;-).
Nun ja, denkt sich der höfliche Operngänger, es ist ja bald Pause. Denkste! Regisseur Himmelmann hat mit seinem Team diese eigentlich wunderbare Oper von den ursprünglichen drei Stunden auf pausenlose 125 Minuten gekürzt. So spielt sich der "Genuss" dieses Abends zwischen ständig in den Theaterschlaf fallend und – bei älteren Menschen hoffentlich verständlich – in sich kontinuierlich forcierenden Harndrang ab. Keine optimalen Voraussetzungen für eine gute Rezension. Aber clever ist eine solche pausenlose Machart schon, die ich eigentlich nur aus modernen Opern-Produktionen kenne; da aber stets mit der Intention, daß nach einer Pause oft niemand mehr im Theater säße. Solch simple Denkweise möchte man dem Regisseur heuer allerdings nicht unbedingt unterstellen.
Obwohl… Wenn man sich zwei Stunden lang mit einem höchst deprimierenden, elenden Einheitsbühnenbild (Johannes Leiacker) – eben dieser Tschernobyl-Ruine mit vorgelagertem Schrottplatz und einer riesigen trüben Pfütze an der Rampe – konfrontiert sieht, steigert sich dieser Fluchtinstinkt doch immer mehr.
Tempus non fugit – im Gegenteil!
Fürs Seelenheil eines friedlich harmlosen Genuss-Suchenden Opernfans der Theatergemeinden und Volksbühnen ist diese Produktion nicht geeignet. Üblicherweise will man sich ja entspannen. Dies klappt nur, wenn man sich an Pennerhorden (immerhin ganz phantasievolle Tristesse in den Kostümen von Gesine Völlm), die sinnlos über die Opernbühne irren, schon gewöhnt hat. Irgendwie gelingt mir persönlich das nie.
"Hier gilt es der Kunst" – daher stört auch wenig, daß man halt nicht Karten spielt, sondern diese massenhaft in die Luft wirft. So gibt es im Finale natürlich keinen Spieltisch mit Geld und Karten. Und auch das Zurufen der Kartenwerte dort wirkt völlig sinnos. Es geht halt nicht um die Royals einer zerfallenen dekadenten Adelsdynastie, sondern um den Verfall eines Individuums zwischen Spielsucht und Liebe.
Warum allerdings die alte Gräfin (achtbar gesungen von Helena Rasker) sich den ganzen Abend in somnambulen Zuckungen bewegen muß und das Ölgemälde der Zarin Katharina ständig hinter sich herschleift, ist rätselhaft. Vielleicht erklärt mir mein Seelenklemptner, den ich nach dem Besuch dieser Depri-Inszenierung am Montag sofort aufsuchen werde, damit ich mich nicht noch verzweifelt von der Brücke stürze, die freudschen oder freudlosen Zusammenhänge.
Na wenigstens keine Rollstühle diesmal…
Gesungen wird in Russisch, was bei einer so textreichen Oper immerhin dazu führt, daß der Zuschauer überwiegend zum obere Bühnenportal schaut und vielleicht seelisch doch nicht so sehr geschädigt das Opernhaus verlässt, wie der Rezensent, der ja – fataler Weise – den Text schon vorher kennt.
Gesungen wird eigentlich in allen Partien gewohnt gut – immerhin schon fast ein Alleinstellungsmerkmal des Essener Aaltos – wobei ich Gabrielle Muhlen (Lisa) und Sergey Polyakow (Herman) als die primi inter pares doch etwas herausheben möchte. Insbesondere diese eigentlich undankbaren Wahnsinnspartie verdienen schon angesichts ihrer reinen Bewältigung großen Respekt. Da darf dann auch das musiktheatralische Darstellungsvermögen etwas leiden. Aber dafür ist die Regie ja verantwortlich. Die stets gleichbleibend gute Qualität des Chores unter Jens Bingert erfreut immerhin.
Fazit: Tschernobyl war gestern – diese Pique Dame ist heute. Für beide gilt natürlich in erheblicher Differenzierung: "grauenhaft!"
Peter Bilsing 13.10.2019