Baden-Baden: Daniil Trifonov: J. S. Bach

„Die Musik ist das Rätselhafteste, was es auf der Welt gibt“ – Oscar Bie.

Festspielhaus Baden-Baden 20. August 2021

DANIIL TRIFONOV, JOHANN SEBASTIAN BACH UND DAS KLAVIER SIND AUF DEM WEG, ES ZU LÖSEN!

Daniil Trifonov, geboren 1991 in Nischni Nowgorod, studierte in Moskau, 2011 Gewinner beim Tschaikowsky- und Rubinstein-Wettbewerb, Beginn einer internationalen Karriere in höchste Höhen. Das Baden-Badener Festspielhaus konnte ihn seitdem begleiten – das Verdienst seines Mentors Valery Gergiev und des Intendanten Andreas Mölich-Zebhauser, beide mit dem Gespür für außerordentlich begabte junge Künstler. Jetzt ein „En-Suite“-Abend zum Abschluss des Sommerfestivals. Daniil Trifonov, längst einer der Großen der jungen Pianisten-Riege, betritt die Bühne, geht hinter dem Flügel zu seinem Platz wie ein schüchterner „Schulbub“ und lässt sich und die Zuhörer auf Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) ein. Es ist kein Widerspruch zwischen dem Größten der Musik und dem Pianisten, also dem 18. Jahrhundert und heute.

„Ich glaube, wenn der liebe Gott das, was auf der Welt „Musik“ genannt wurde, ihr dann das Werk Bachs gegeben hätte.“ So lässt diese Musik Kants Ding an sich lebendig werden und die Gegensätze zwischen Begriff und Sein verblassen. Bachs Kompositionsprinzip ist der kontrapunktische Gedanke: er denkt die Stimmen gegeneinander. Beethoven und Chopin sind ungeboren vorhanden und zu hören. Bach und seine Fugen überwinden die Mathematik und fließen in die Seele hinein und wieder aus der Seele.

Zu hören und zu empfinden ist „Die Kunst der Fuge“ BWV 1080. Ein sanfter Beginn lässt bald ihre erste Zaghaftigkeit überwinden. Die Fuge ist über das übliche Schema der Suiten und Partiten hinausgewachsen. So hört man zu Beginn die Chaconne aus der Partita d-Moll, Variationen über einem gleichbleibenden Bass mit fester Akkordfolge. Es ist ein riesiger Bau: 131 Takte Moll, 76 Takte Dur, 49 Takte Moll. Geschrieben für Violine Solo – ein Paradestück. Das reizte 1877 Johannes Brahms, „Ich wollte mich wie ein Geiger fühlen“ und setzte die Chaconne für Klavier. Brahms gab viele Konzerte und suchte so nach Spezialitäten für Pianisten. Er setzte noch ein Sahnehäubchen darauf: „für die linke Hand zu spielen“.

Trifonov gab es furios. Die rechte Hand lag auf dem Knie. Sie wurde auch nicht benötigt. Mit einer Hand, der linken, beherrschte er die gesamte Tastatur, mit flacher Hand gab er den Schlag auf die Tasten, beherrschte die (für den Laien) abenteuerlichsten Fingersätze und ließ denken, man brauche die rechte Hand gar nicht, um Klavier zu spielen. Nun, links ist, wo das Herz schlägt!

Die Chaconne war Anfang und Überleitung zur „Kunst der Fuge“ BWV 1080 von 1752, die durch Krankheit und Tod von Bach unvollendet blieb. Die Reihenfolge der ‘Contrapuncti‘ ist nicht gesichert. ALLE 18 Fugen basieren auf einem einzigen Thema, das variiert wird. Die einzelnen Stimmen nehmen offensichtlich sehr genau auf die Griffweite der Hand Rücksicht. Die abschließende unvollendete Fuge (Contrapunctus XVIII) geht von der Tonfolge b-a-c-h aus. Wie soll im Konzert die „Kunst der Fuge“ enden? Notengetreues Abbrechen in Takt 239 oder mit dem Ende b-a-c-h?

Trifonov spielt ein Ende. Trifonov und Bach sind eine geistige Einheit in Noten und dem Klavierspiel! Er hat die Komposition verinnerlicht, spielt auswendig, was bei diesem „großen Brocken“ eine immense Leistung ist. Gilt es doch, nicht „nur“ die Noten im Kopf zu haben, sondern sie auch interpretierend auf die Klaviertasten zu bringen. Er macht z.B. eine Fermate, um dann den Rhythmus zu ändern. Famos! Spielen und Denken drücken sich auch in seiner Haltung aus. Er sitzt teils gerade, die Hände flach über der Klaviatur, die Finger leisten dann Enormes, teils beugt er sich mit dem Rücken über die Tasten und Kopf, Hände und Klavier sind parallel zueinander. Mathematisch schneiden sich Parallelen im Unendlichen. Trifonov hat Bach so verinnerlicht, dass man dieses Phänomen auch am Flügel erleben kann. Er versinkt in Bach, seine Kunst lässt ihn so zu Bach werden.

Das „neue“ Hammerklavier ist für Pianisten nach der Bach-Zeit eine nicht zu unterschätzende Ausdruckshilfe. Die Saiten werden nicht mehr wie beim Spinett gerissen, sondern mit Klöppeln geschlagen, so dass jede Nuance des Anschlags im Finger ruht. „Die Saiten fortschwingen zu lassen, nachdem sie der Klöppel berührt hat, bis die gehobene Taste wieder den Dämpfer darauflegt – dies war die epochemachende Erfindung … die Bachsche Kunst war vollbracht.“

Das zahlenmäßig geringe Publikum zollte großen Beifall für die große Leistung und bekam noch zwei Zugaben. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 645) eine zärtliche Hochzeitsmusik, melodische Lyrik, die man im Stillen mitsummen konnte. Dann zum Abschluss „Jesu bleibet meine Freude“, entstanden 1716 zum 4. Advent, ein 4-stimmiger Choralsatz mit Orchester, 1934 von der amerikanischen Pianistin Myra Hess für Klavier bearbeitet. Die Choralmelodie selbst ist 1641 vom Geiger Johann Schop geschrieben. Bach komponierte die kammermusikalische Fassung. Der Choral ging so durch mehrere Hände und bleibt einfach als berührend schön im Kopf.

„Es kann keine Auflösungen geben, die das Wunder irdisch machen. Denn das Wunder muss bleiben, wenn die Musik bleiben soll.“ Ein Wunder muss hic et nunc die Intendanz vollbringen. Es ist beschämend, wenn das Festspielhaus mit nur ca. 200 Gästen von möglichen 500 gefüllt ist.

Mit der Hoffnung auf bessere Zeiten: Heute ein Bravo für den außerordentlichen Pianisten Daniil Trifonov!

Inga Dönges, 25.8.2021

Foto-Credit: Andrea Kremper