Baden-Baden: J. S. Bach – Goldberg-Variationen

Evgeni Koroliov

Festspielhaus Baden-Baden am 14.12.2019

„Kunst und Musik sind für mich das Paradies“

so Evgeni Koroliov, der russische Pianist, geboren am 1. Oktober 1949 in Moskau, studierte dort am Tschaikowsky-Konservatorium Klavier. Es folgten Preise bei Internationalen Wettbewerben, ab 1978 die Professur an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und ließ die damalige Sowjetunion hinter sich: „Ich habe diese Gesellschaft als nicht gut, nicht gerecht und nicht wahrhaftig empfunden, sondern stark die Freiheit einschränkend … Diese Gesellschaft war überhaupt nicht nach meinem Geschmack.“

Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit führte der Weg ihn zwangsläufig zu Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). In Eisenach geboren wurde er in einer ständig aufwärts führenden musikalischen Laufbahn 1717 zum Kapellmeister des Fürsten Leopold zu Anhalt-Köthen. Nach dem Tod seiner ersten Frau, mit der er sieben Kinder hatte, heiratete er Anna Magdalena, die ihm dreizehn Kinder schenkte. 1723 wurde er zum Thomas-Kantor in Leipzig gewählt. In seinem reichen Leben für die Musik komponierte Bach 1741 als sogenannte „Klavierübung 4. Teil“ die Goldberg-Variationen.

Die Entstehungsgeschichte ist märchenhaft schön und darf nicht fehlen. Der russische Botschafter am kursächsischen Hof Graf Kayserling litt unter Schlaflosigkeit. Sein junger Cembalist Johann Goldberg musste ihm im Nebenzimmer seines Schlafgemachs die Zeit mit Musik vertreiben. Schon damals glaubte man an Musiktherapie! Hierfür bestellte sich Kayserling bei Bach „einige Musikstücke … sanften und etwas munteren Charakters“. Goldberg musste dann regelmäßig daraus spielen. Der „Erfolg“ ist nicht überliefert: führte die Musik zum Einschlafen oder doch zur „Gemüthsergetzung“? Für Bach gab es einen goldenen Becher mit 100 Louisdor als Anerkennung.

Die „Klavierübung“ ist ein Zyklus und beinhaltet die gesamte Cembalotechnik der damaligen Zeit. Sie ist ein Monument und erst wieder viel später mit Beethovens „Diabelli-Variationen“ vergleichbar. Zur Ausführung ist von Bach ein zweimanualiges Cembalo vorgeschrieben, aus spieltechnischen und auch aus klanglichen Gründen. Dadurch sind forte–piano oder Echo-Effekte zwischen den Manualen möglich. Hier ist nun die Kunst des Pianisten gefragt, denn er hat „nur“ eine Tastatur statt der zwei Tastaturebenen des Cembalos zur Verfügung.

Evgeni Koroliov ist dafür der Künstler und Zauberer. Die linke Hand fliegt über die rechte und umgekehrt. Man hört die Obertöne, das Echo. Das rechte Pedal ist eine zusätzliche Hilfe. Alles klingt leicht, tänzerisch, singend. Es gibt keine „baröckliche“ Starre in der Tongebung. Oft sind rechte und linke Hand (auch im Takt) gegenläufig. Jeder Ton ist trotzdem für sich hörbar. Es ist phänomenal: Koroliov ist eins mit Bach.

„Die ideale Welt, die möglicherweise dann im Paradies existiert. Oder wenn dort nicht, dann eben auf der Erde, in der Kunst, in ganz großer Musik.“ – „Alles was äußerlich ist, kann eine Täuschung sein.“ Er ist einig mit Immanuel Kant (1724 – 1804): „Es sind uns Dinge … gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern erkennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken …“. Das alles spielt Koroliov, lässt den Geist und das Denken Bachs durch seine Finger auf dem Flügel ausdrücken. Man muss nur Ohren haben zu hören, Augen zu sehen, wie der Pianist spielt, als umgäbe ihn eine Aura.

Er beginnt die Variationen mit einer zarten ‚Aria‘ (G-Dur), von Bach entnommen aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena. Nicht die Melodie wird variiert, sondern der Bass mit seinen Harmonien. Jede weitere Variation bleibt als Individuum für sich bestehen. Das ganze Werk ist übersichtlich konstruiert und gegliedert. Dreißig Variationen von der ‚Aria“ und ihrer Wiederholung an Ende eingefasst.

Nach der 15. Variation beginnt der 2. Teil mit einer Französischen Ouvertüre. Jede dritte Variation ist ein Kanon. Er ist die strengste Form der Imitation, der notengetreuen oder leicht abgewandelten Nachahmung in einander folgenden Stimmen. Er ist jeweils zweistimmig angelegt über einem freien Bass-Kontrapunkt. Das alles lässt uns dieser Meister und Beherrscher des Flügels hören und löst jede spieltechnische Schwierigkeit. Die musikalischen Ideen ändern sich, so auch der Ausdruck, der im Mittelpunkt steht.

So steigert Variation 11 das Spiel der sich kreuzenden Hände in die triolische Beschleunigung, Variation 20 ist einfach (!) das virtuose Spiel, das in Nr. 28 und Nr. 29 in ein Feuerwerk mündet. Die abschließende 30. Variation heißt „Quodlibet“ und enthält zwei Volksmelodien: „Ich bin so lang nicht bei dir gewest – Kraut und Rüben haben mich vertrieben“. So endet das Riesenwerk in einem Scherz, der dann durch die Wiederholung der ‚Aria‘ den Ringschluss zum Anfang herstellt.

„Mich interessierte dann Bach mehr als diese [anderen] pianistischen Kunststücke“. Das sagt ein Meister der russischen Schule. Für ihn besteht diese darin, „dass man keine Schule, kein Dogma hat, sondern aus dem lebendigen Musizieren herauskommt“. Das hat Evgeni Koroliov 90 pausenlose Minuten lang gezeigt. Diese Noten auswendig im Kopf zu haben ist nicht die eigentliche Kunst, sondern diese mit all seinen Gedanken zu spielen. Ob der Graf damals eingeschlafen ist, wissen wir nicht, aber wir sind hellwach und voll des musikalischen Glücks.

Damit erhebt sich eine andere Frage, die für die Gesellschaft, vor allem die junge, wichtig ist. Wie führt man sie an diese Kunst heran? Das heißt praktisch: Wie füllt man wieder die Konzertsäle, die durch den natürlichen Alterungsprozess leerer werden? Dieser Konzertabend war recht schütter besetzt, wie schon vorher andere in dieser Spielzeit auch. Für „Kenner“ war es eine Perle, aber wo waren die „Anfänger“? Es waren viele leere Plätze. Sie hätten mit Evgeni Koroliov und Johann Sebastian Bach einen Impuls für „mehr“ bekommen können.

Das Festspielhaus sollte seinen selbst gesetzten Anspruch in dieser und weiteren Spielzeiten erfüllen, neue Publikumsschichten zu finden. Die Stars, die nur ihre Selbstdarstellung pflegen und nicht die der Musik, und das reichliche Maß an Entertainment-Vorstellungen entsprechen sicher nicht den Gründungsprinzipien des Festspielhauses, das seinen Förderern und Freunden „Verlässlichkeit, Gemeinschaftssinn und Treue“ verspricht.

Mit Evgeni Koroliov gesprochen: „Keine musikalischen Kunststücke“, sondern die Suche „nach musikalischer Wahrhaftigkeit“.

Inga Dönges, 16.12.2019

Bilder (c) Steven Walocha / Gela Meggrelize / Wiki