Baden-Baden: „Werther“, Jules Massenet

© Andrea Kremper

Werther – Goethes Brief-Roman als Quelle von Massenets Oper. Dazu Nietzsche: „Im Verhältnis zur Musik ist alle Mitteilung durch Worte von schamloser Art.“ Ist Werther eine Oper oder (nur) einfach ein vertonter Roman? Jules Massenet wurde 1842 in Montaud an der Loire geboren, genoss seine Ausbildung am Conservatoire in Paris, wohin er 1878 als Kompositionslehrer berufen wurde. Nahezu 40 Jahre genoss er eine große Popularität, sein Werk umfasste allein 23 Opern. 1885 fiel ihm – nach einem Besuch Deutschlands – eine Übersetzung des Werther- Romans in die Hände. Goethes Roman (1774) war nicht nur erfolgreich, er wurde zum Ereignis einer Epoche, prägte eine ganze Generation junger Menschen. Man sprach vom Werther-Fieber, mit dem Tod als Selbstvollendung. Zu Massenets Lebenszeit war dann die Verherrlichung von Schwäche nicht mehr gefragt. Das jugendliche Selbstverständnis hatte sich geändert. Aber Massenet entschloss sich nach der Lektüre sofort, eine Oper über die tragisch endende Liebe von Werther zu Charlotte zu komponieren.

Es entstand eine sehr eigenwillige Interpretation des Romans, eine psychologische Studie über das Seelenleben von vier Figuren. Werther, Charlotte, Albert und Sophie16 stehen im Zentrum des drame lyrique; die Neben-Charaktere Schmidt, Johann und der Amtm16ann erscheinen heute als pittoreskes Beiwerk. Werther, Charlotte, Albert und Sophie sind psychologisch profilierte Figuren, Menschen mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten. Sie haben ihre Wirkung bis heute nicht verloren. Sie sind unserer Gegenwart sehr nahe und durchziehen den unaufhaltbaren Widerspruch zwischen Realität und Idealität, zwischen lebbarer und geträumter Welt. Alle vier sind unentrinnbar in dieser Welt verstrickt. Darin manifestiert sich der grundsätzliche Eingriff Massenets und seines Librettisten in Goethes Roman. Charlotte hatte ihrer Mutter auf dem Totenbett geschworen, Albert zu heiraten, ein gleichsam religiöses Fundament und machte sie unfrei. Der Suizid Werthers wurde so schließlich ein Moment posthumer Gewalt: „Ich war unglücklich, ihr sollt es auch sein.“

© Andrea Kremper

Dies die dramatis personae deren Stimmlagen uns medias in re versetzen. Werther, die Titelfigur, für ihn ist der Tod Selbstvollendung, die Summe aller Existenz! Er soll lyrischer Tenor sein und/oder auch jugendlicher Heldentenor. So erscheint Jonathan Tetelman auf der Bühne, d.h. er ist einfach schon da in einer riesigen Bibliothek mit mehreren Etagen (entworfen von Radu Boruzescu). Leider im digitalen Zeitalter längst vergangen, aber einfach wunderschön anzusehen. Die Deutsche Grammophon hebt Tetelman, der chilenisch-amerikanischer Herkunft ist, derzeit in Richtung Tenor-Himmel. Leider ist für ihn lyrisch einfach leise, spinto einfach laut. Diese Ausdrucksweise ist wohl auch dem laut aufspielenden Orchester, dem Balthasar-Neumann-Orchester geschuldet. Seine Erscheinung lässt sicher manches weibliche Herz höherschlagen. Die flotten modischen Jeans taten ihr übrigens. Nikolai Gedda, einer der überragenden Werther-Darsteller des 20. Jahrhunderts sagte: „Werther sei nicht zu interpretieren, sondern zu singen – was schwer genug ist.“

Kate Lindsey gab Charlotte. Sie, eine amerikanische Mezzosopranistin, war von Massenet eine sehr eigenwillige Besetzung. Der Mezzosopran war eigentlich reserviert für den Typus der Femme fatal und den Coup de foudre, die Liebe aus heiterem Himmel. Charlotte erkannte ihre Liebe zur Werther aber erst spät mit dem sterbenden Werther. Sophie, ihre Schwester, Elsa Benoit wurde als lyrischer Sopran ihrer Rolle gerecht Als Französin sang sie verständlich, was man von den anderen Sängern – da nicht muttersprachlich – nicht sagen konnte. Der Dank gilt der Übertitelung; auch ein Sprachcoach für die Sänger wäre von Nöten gewesen. Sophie gab die Fröhliche auf der Bühne, Soubrette war erlaubt. Albert ist Nikolai Zemlianskikh, in St. Petersburg und am Bolschoi-Theater als Kavaliersbariton ausgebildet, wird der lyrischen Aufgabe gerecht mit seiner warmen, dahinfließenden Stimme. Die Comprimarii runden das ganze ab: Scott Wilde, Kresimir Spiecer und William Daceley und werden unterstützt vom Kinderchor Cantus Juvenum Karlsruhe und den Studenten.

Das Balthasar-Neumann-Orchester wurde 1995 von Thomas Hengelbrock gegründet und sieht sich als Originalklang-Orchester mit neuen Sichtweisen, beginnt im Frühbarock und nennen sich historisch informiert. Soweit so gut. Aber Massenet und seine Oper ist zum Ende des 19. Jahrhunderts komponiert. Längst hatte man das Vibrato erkannt, dass sich wie ein feiner, flirrender Silberfaden über die Musik legte und weit entfernt von überschwellig-gefühlsseligem Schmalz war. Massenet wollte wohl kaum rückwärtsgehen und die Instrumente veraltet spielen lassen. Selbst der ihm angehängte Wagnerismus passt nicht in diese Zeit. So hörte man, dass dieses Orchester keine Opernerfahrung hat und den Sänger nicht den gewohnten Klangteppich ausrollte. Manches Ungereimte der Sänger war der Lautstärke des Orchesters geschuldet und natürlich dem Dirigenten.

© Andrea Kremper

Thomas Hengelbrock zeichnet als Kurator dieser Herbstfestspiele. Dieser Werther ist eine Koproduktion des Festspielhauses Baden-Baden und der Opéra National de Paris – sonst wäre das Kunstwerk sicher nicht zu finanzieren. Dort trägt Herr Hengelbrock hoffentlich einen Frack und nicht wie hier Sakko mit T-Shirt, eine Art Clochard-(Ver-)kleidung. Seinen Paten für diesen Abend ist es also sicher ein Tiefschlag, ebenso dem eleganten Publikum, das endlich wieder lang trug, im größten Opernhaus in Deutschland.

Wie sieht Oscar Bie diesen Werther? „Massenet bringt je nach den Umständen, er ist schließlich Routinier, Italienisches, Wagnerianisches, Pariserisches und uns wird Operschwammig und schwindelig bei dieser Musik. Sie machen Vater Goethe Schande. Es läuft ein Brei, geschickt gerührt. Ich mochte ihn nicht.“ In der Tat, Massenet hat durchkomponiert und entsprach so der Wagnerhörigkeit. Die Uraufführung war 1892 an der HofoperWien, in deutscher Sprache, übersetzt von Max Kalbeck. Dazu der Wiener Kritiker Eduard Hanslick, dessen Urteil meinungsbildend war: „Massenet hat sich mit ganzer Seele in diesen Stoff versenkt und … eine merkwürdig einheitliche Stimmung festzuhalten … hat auf Arien und Duette, auf Chöre und Finales verzichtet. Er hat für das seit acht Jahren fertige Werk keine Aufführung angestrebt.“ So die unterschiedlichen Bewertungen der Zeitgenossen. Gar nicht glücklich war man damals in Deutschland mit dieser Aneignung durch den Franzosen. Man verbat es sich, dass „ein welscher Komponist mit seiner gefühlsbetonten Musik einen deutschen Klassiker verunglimpfte“.

Der Regisseur Robert Carsen ist sicher auf dem Höhepunkt seiner Kunst mit Inszenierungen aller Art, Oper und Schauspiel. Eine Krone wird 2024 die neue Inszenierung des Jedermann in Salzburg sein. Die Nähe zum Wort zeigt hier das Bühnenbild, die Bibliothek mit mehreren Etagen, die zum Schlussbild ihre Bücher wie zu einem Kalvarienberg zusammenstürzen lässt. Auf ihm stirbt Werther und Charlotte erkennt ihre Liebe zu ihm. Sie fühlt sich schuldig, da sie Werther die Pistole beschafft hat. Orchester und Vorhang beenden die Oper mit einem gewaltigen Ton wie ein Schuß.

Der Orchestersatz ist im Grunde lyrisch, findet aber zu den dramatischen Höhepunkten zu einer Schlagkraft, die veristische Töne vorwegnimmt. Nun bleibt zu entscheiden, ob Nietzsche Recht hat. Es heißt doch: Prima la musica, e poi le parole! Also sollten diese Herbstfestspiele ihre eigene Antwort geben. Ist dafür der Kurator zuständig? Man sollte Herrn Hengelbrock um eine Antwort bitten. Das Publikum klatschte, mit Bravo für die Sänger, dann aber schnell zum Ende. Ein Abend zum Nachdenken und Genießen und die große Arie im Ohr: Pourquoi me reveiller….

Inga Dönges, 26. November 2023


Werther
Jules Massenet

Festspielhaus Baden-Baden

Premiere 24. November 2023

Inszenierung: Robert Carsen
Musikalische Leitung: Thomas Hengelbrock
Balthasar-Neumann-Orchester

Folgevorstellung am 26. November 2023