Baden-Baden: „Dona nobis pacem“, John Neumeier

John Neumeier beendete seine Intendanz in Hamburg, eine Ära von fünfundzwanzig Jahren. Sie ging nahtlos über in die sogenannte Ballett Intendanz in Baden-Baden. In Hamburg endete diese Zeit mit „Dona Nobis Pacem“ („Der Opernfreund“ vom 7. Dezember 2022) und war auch der Beginn in Baden-Baden. Also nichts Neues für die neue Intendanz.

1987 choreographierte John Neumeier schon einzelne Sätze aus der Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach an der Pariser Oper. Hic et nunc sagte er: „Unvorstellbar mit dem Ballett des Bolschoi Theaters oder der Pariser Oper zu erarbeiten.“ Nur mit meiner Compagnie!

Und es gibt weitere Verwirrungen um die Person des Choreographen. Auch wenn man Kunst und Politik trennen muss, so können sie doch eine unheilige Allianz eingehen und deshalb ausgesprochen werden müssen. „Wohl erst auf öffentlichen Druck nahm John Neumeier davon Abstand, dem staatlichen Bolschoi-Ballett, das auch zur Unterhaltung der Soldaten tanzt, die Lizenz für sein Ballett „Die Kameliendame“ zu erneuern (FAZ vom 12. Juli 2023) … Auch aus John Neumeiers Umfeld ist zu hören, dass der Choreograph viele Argumente dafür hatte, sein Ballett dem Bolschoi nicht zu entziehen. … Und darum noch einmal: Mit einem solchen Aggressor schließt man keine Verträge, und man nimmt kein Geld von ihm, und man gibt den eigenen Namen nicht für seine Zwecke her. … Künstler des Bolschoi-Theaters sammelten unter der Überschrift „Bolschoi für die Front“ … Geld, Waffen und anderes für Putins Armee – In welcher Welt lebt John Neumeier?“ (Wiebke Hüster. FAZ vom 12. Juli 2023)

„‘Kommersant‘ berichtet, Neumeier habe die Lizenz seines Balletts „Die Kameliendame“, die Ende Juli ausläuft, verlängert … Aber jedes westliche Ballett, das dem Bolschoi oder Mariinsky aufgeführt wird, soll der Bevölkerung suggerieren, das Leben ging normal weiter. Das aber ist Propaganda, solange das Sterben in der Ukraine weitergeht. Wiebke Hüster“

Wie dem auch sei: Über den Künstler und Choreographen Jahn Neumeier wird man nicht  richten. Aber: ihn als Ballett-Intendanten des Festspielhauses zu führen, ist fragwürdig. Der großartige Intendant Andreas Mölich-Zebhauser hatte alle Sparten in (s)einer Hand und Neumeier und seine Compagnie jährlich zu Gast in aller Freundschaft. Das Festspielhaus sollte sich nicht von Putins Propagandamaschine instrumentalisieren lassen. „Brüderchen, komm tanz mit mir!“ (FAZ vom 15. September 2023).

Der Worte sind genug gewechselt, lassen wir uns vom Zauber des Tanzes einfangen.

Die Messe entstand von 1724 bis 1748/49 auf Grundlage lateinischer Mess-Texte. Sie war keine in sich geschlossene Komposition, sondern eine Sammlung, in der kein zyklischer Zusammenhang bestand. Formal entspricht die h-Moll-Messe dem Typus der Kantatenmesse, die in Arien und Chorsätze gegliedert ist, jedoch keine Rezitative enthält. Verwendet sind sog. Parodien, d.h. alte Musik und Texte mit neuem Text wieder zu verwenden.

(c) Kiran West

Es singt das Vokalensemble Rastatt, das Freiburger Barockorchester musiziert, dazu klingen sechs Sänger, alles zusammengehalten vom musikalischen Leiter Holger Speck. Bedauerlich ist, dass alle in einen Orchestergraben gepfercht sind, mit einer recht kleinen Öffnung zum Zuschauerraum. Das nimmt ihnen einen Großteil des Klangvolumens. Eventuell sieht (und hört?) man die Köpfe der Sänger und kann diese kaum zuordnen. Es wäre sicher genügend Platz auf der Bühne gewesen – die Quader mit zwei Türen für Auf- und Abtritt der Tänzer hätten Platz geboten. Nur so wäre der musikalisch umhüllende Rahmen für den Tanz geboten.

Das Sänger-Ensemble: Marie-Sophie Pollak, Sopran I; Sophie Harmsen, Sopran II; Benno Schachtner, Altus; Julian Prégardien, Tenor; Konstantin Ingenpass, Bass; Mathias Winckhler, Bass. Sie alle geschult als Lied- und Oratoriensänger und schon junge Hochschullehrer. Soli und Duette gefielen nicht ausnahmslos, aber passten sich dem Gesamtwerk an.

(c) Kiran West

Die Musik war angereichert mit Texten und Gedichten von Günter Kunert und John Lennon. Sicher eine Reminiszenz an für uns alte Zeiten – wie auch die historische Einbindung von Hiroshima. Der fast nackte Alessandro Frola stellt ein sterbendes Atombombenopfer dar. Bedrückend und unter die Haut gehend. Es kommt dem Zuschauer vor, als wäre er ein schamloser Voyeur. Die Zuckungen und tänzerischen Figuren sind der Todeskampf, den man nicht beobachten sollte. Aber es ist erlaubt als Lernen aus der Geschichte.

Das Licht tut sein Übriges. Wechsel von greller Helligkeit und Dunkelheit, die jeweils langsam auf- und abblenden. Es bleibt wie Weiß und Schwarz, wie auch bei den Kostümen. Weiße lange und schwingende Kleider der Frauen, nur einzelne in changierenden Rottönen für kleine Gruppen, auch der Witwen der Soldaten.  Die Tänzer teils in khaki-farbigen Uniformen und auch in weißen Jogginganzügen. Sie laufen immer wieder über die Bühne als hätten sie ein unbekanntes Ziel.

Der Beginn mit Licht im Saal und einer leeren Bühne. Für Peter Brook „Der leere Raum“. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ein anderer ihm zusieht (hier: der Fotograph); das ist alles, was zur Theaterhandlung (hier: die Choreographie) notwendig ist.“ Ballett ist ein Vergrößerungsglas und ebenso wie eine Verkleinerungslinse. Ballett und Leben sollten eins werden. Der junge Soldat (Nadoka Sugai) und der Fotograph (Lennard Giesenberg) ziehen durch das ganze Stück.

ER und SIE sind die dramatis personae – Aleix Martinez und Ida Praetorius. Wen sie darstellen bleibt offen -wohl der Phantasie der Zuschauer überlassen. Die große Szene und Auftritt von ER: Im hellen Anzug mit einem Koffer betritt ER die Bühne. Der Koffer springt auf und weiße Blätter fallen im hohen Bogen heraus. Der Zuschauer ist im Augenblick an den Film „Mann mit dem Koffer“ erinnert. Alter Slapstick ist hier nicht erlaubt, ruft ER sich zur Ordnung. ER bewegt sich wie in Trance, die Glieder zucken und führen zu einer überwältigenden Tanzeinlage: Sprünge, Pirouetten, ein Grand jeté nach dem anderen und gleicht einer Flugbewegung, so als wäre er hier auf der Flucht. Einer Flucht in den Tod? Im Koffer ist ein weißes Hemd, ein Totengewand?

Tanz und Musik sind nicht taktgleich. Hervorragende Figuren der Tänzer enden nicht mit dem Ende der Musik. Die Tänzer selbst in ihrem großen Reigen und Kreisen sind vorbildlich synchron. Wie auch in den Gruppenbildern zu dritt oder zu viert. Getanzt wird in einer Mischung aus weichen Bögen des klassischen Balletts und den eckigen Figuren der 70er und 80er Jahre. Es gibt schöne Pas de deux. Anna Laudere im schwarzen Umhang strahlt Würde und Edelmut aus als eine der trauernden Witwen. Im „Crucifixus“ gibt Alexandr Trusch den Gekreuzigten und entwickelt sich zu einer Lichtgestalt, die das Gute in den Menschen zeigt. Im „Kyrie“ stellt sich die Frage, ob es begleitende Kriegsbilder geben darf. Das „Confiteor“ bringt ein beglückendes Flötensolo. So wird man entschädigt für die grauslich falschspielende Trompete.

Das Ende – ein mehrfach wiederholtes „Dona Nobis Pacem“, was sicher keine Einfallslosigkeit des großen Johann Sebastian Bach bedeutet. Jahrhunderte später bringt Friedrich Nietzsche es auf den Punkt: „Das Leben ist die ewige Wiederkehr des Gleichen.“ Das Beten für Frieden reicht sicher nicht. Der Mensch muss schon dafür arbeiten.

Holger Speck hält dieses umfangreiche Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile, fest in seinen Händen und vermittelt musikalische Autorität.

(c) Kiran West

Zum Schluss dieses großen Abends geht der Mann mit dem Koffer in langsamer Entschleunigung über die Bühne zur Ausgangstür, nur er war im Licht, das große Ensemble im Dunkel. Das Publikum hielt es für das Ende des langen Abends und begann zu klatschen – wurde aber gestoppt, um dann in frenetisch lang andauernden Beifall und Jubel auszubrechen. John Neumeier wird sie 2024 wieder beglücken. Er hat sich ganz offiziell an das Festspielhaus Baden-Baden gebunden.         

Inga Dönges, 2. Oktober 2023


Dona Nobis Pacem
Ballett von John Neumeier
Musik von Johann Sebastian Bach

Festspielhaus Baden-Baden

Premiere 29. September 2023

Choreographie, Bühnenbild, Licht & Kostüme  John Neumeier
Musikalische Leitung Holger Speck
Freiburger Barockorchester
Vocalensemble Rastatt
Hamburg Ballett John Neumeier