„Wer hat Dornröschen wachgeküßt?“
So erzählt Iring Fetscher das Märchen der Gebrüder Grimm, hier die Vorgeschichte: „Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: „Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ … und kriegten immer keins. … Als die Königin einmal im Bade saß, kroch ein Frosch aus dem Wasser ans Land und sprach: „Ehe ein Jahr vergeht wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“ … Das geschah. … Der König gab vor Freude ein großes Fest und wollte alle 13 weisen Frauen dazu einladen. Da er aber nur 12 goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, musste eine von ihnen daheimbleiben. … Zur Taufe trat die 13. weise Frau herein … und rief mit lauter Stimme: „Die Königstochter soll sich in ihrem 15. Lebensjahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Da die 12. Frau, die Fliederfee noch ihren Wunsch frei hatte, konnte sie den Fluch mildern: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger, tiefer Schlaf.“
So gab das Petersburger Marientheater „Dornröschen“ als Auftragswerk an Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, das Ballett auf eine neue, höhere Stufe hob. Bislang galt „Ballettmusik“ als etwas Verachtenswertes. Tschaikowsky fand es beim Komponieren keineswegs unter seiner Würde, sich genau an das minutiös ausgearbeitete szenische Schema Petipas zu halten, in dem für weite Partien Rhythmus, Charakter und Länge mit exakter Taktangabe vorgeschrieben waren. Im Juni 1889 beendete Tschaikowsky den Entwurf und hatte dafür nur 40 Tage gebraucht. „Dornröschen“ zählte zu seinen Lieblingswerken. Es war eine Musik von zarter Poesie, ganz im Dienst des humanistischen Grundgedankens vom Sieg des platonischen Guten und Schönen über das Böse.
Der Prinz Désiré, sein Name ist das „Verlangen“, der Eros auf das Schöne als höchstes Gut. Dornröschen, die Prinzessin Aurora (die Morgenröte) wird von Désiré mit Ungeduld erwartet. Beide, Tschaikowsky und Petipa lassen der Fantasie genügend Raum. Marius Petipa war 70 Jahre alt, als sein „Dornröschen“-Ballett 1890 am St. Petersburger Marientheater Premiere hatte. 1847 war er in St. Petersburg angekommen, ein junger Mann aus französischer Tänzerfamilie, der sich bereits in der Welt umgesehen hatte als Tänzer und Ballettmeister. Über 60 Jahre blieb er St. Petersburg verbunden und wurde der Ballett-Zar aller Russen, das vollendete Abbild zaristischer Theaterkultur.
Man möge dem Schreibenden die o.a. Ausführungen nachsehen. Aber das Programmheft enthielt nichts Dergleichen.
John Neumeier fasst den Zipfel dieses Fadens, um „Dornröschen“ in unserer Zeit für das Ballettpublikum begreifbar zu machen. Er teilt seine Choreografie hälftig mit der Petipas. Der Zuschauer kann leicht erkennen, was von wem ist. Neumeiers Prinz Désiré verkörpert die heutige Zeit – aber nur im Kostüm: er trägt Jeans. Aber: Alexandr Trusch schlägt ihm ein Schnippchen. Er tanzt atemberaubend, ja, „göttlich“, wenn man dies Adjektiv weltlich benutzen darf. Assemblé, Fouetté, Flic-Flac, Grand jeté en avant, ein in der Luft zweimal gedrehter Sprung und vieles mehr, sowie der Pas de deux mit Poisson.
Damit wären wir bei Dornröschen, getanzt von Alina Cojocaru als Gast. Sie ist Rumänin, ausgebildet in Kiev mit der Waganova-Methode, einer besonderen Schule des klassischen Tanzes. Tanz ist etwas, was nicht oder nicht gut beschreibbar ist. Er lebt, weil er in uns Welten erschließen kann, die des Wortes nicht bedürfen. Die Arme sind dabei ebenso wichtig wie die Beintechnik, und lassen nie die Trennung von Bein- und Armhaltung zu. Alina Cojocaru tanzt entsprechend und unterscheidet sich so von den Tänzerinnen des Hamburg Balletts. Für sie findet der Tanz meist auf der Spitze des Fußes statt.
Das Ensemble ist groß, so dass man noch einzelne Tänzer und ihre darzustellenden Figuren erwähnen und bewundern kann. Carabosse, die böse Fee wird traditionell von einem Mann getanzt. Sie heißt hier „Dorn“ und wird von Karen Azatyan gegeben. Das Böse drückt sich im schwarzen Gewand aus, darunter ein fleischfarbenes, mit Dornen bemaltes Trikot – auch wie bei ihren Gehilfen. Alle mit Bewegungen und Sprüngen, die das Böse markieren. Die Rose, Anna Laudere, Catalabutte, der Hof-Tanzmeister, Christopher Evans und so viele mehr, eine riesige Compagnie, die wir hier in Baden-Baden näher kennenlernen und mögen werden.
Das Bühnenbild von Jürgen Rose – wie immer opulent – und im Stil der Zeit angemessen. Im Prolog der Wald auf einem großen „Vorhang“ im Hintergrund. Das Märchenschloss mit Holz und mit allen kleinen Dingen dargestellt, die bis zum Schlussbild reichen. Dazwischen das Anwachsen der Dornenhecke, die Dornröschen im Schlaf beschützt, bis Prinz Désiré sie wachküsst. Der ganze Hofstaat erwacht ebenfalls aus seinem hundertjährigen Schlaf und der große Ball, ein „Freudenfest“ stattfindet. Hier ein Problem durch das Bühnenbild: es verkleinert die Tanzfläche zu sehr. Das zeigt sich schon zu Beginn des 1. Aktes. Der große Gruppentanz mit den Blumengirlanden ist bei Petipa so angelegt: „Der Walzer linienmäßig angeordnet: 16 Frauen – 16 Männer -je 16 Mädchen und Knaben, die Tänzer mit einem blauweißen Kostüm, die Kinder gelb.“ Petipa wollte die farbliche Lösung gleichfalls konzentriert als Übereinstimmung mit der Musik. Das war auf der hiesigen Bühne ein „Kuddelmuddel“, obwohl es schon weniger Tänzer waren.
Diese Unübersichtlichkeit wirkte auch in den getanzten Figuren – sie wurden einfach gelaufen. Das machten aber die wundervollen Kostüme wett. Weit geschnittene Roben mit Schleppen, auch die Herren in eleganten Anzügen. Die Tänzerinnen trugen keinen Tutu, sondern das Knie umspielende Röcke. Die verdeckten leider die tanzenden Beine – aber vielleicht war das gewollt.
Leider gab es im dritten Akt nicht die entzückenden Tierfiguren aus Grimms Märchen. Aber Neumeier hatte – wie andere vor ihm – das Ballett von fast vier auf drei Stunden gekürzt. Das Orchester war die heimische Philharmonie Baden-Baden. Sie war einfach laut und vom Dirigenten Markus Lehtinen wohl auch nicht zu bändigen. Er ist ein erfahrener Ballettdirigent – sein Kontakt mit der Bühne war makellos. Das Violin-Solo war in russischen (?) Händen – Jewgeni Schuk spielte es so romantisch wie zur Entstehungszeit des Balletts.
Es war ein Abend, der die unverwüstliche Kraft des Märchens zeigte und von den Zuschauern auch so aufgenommen wurde. Es bleibt die Frage, warum John Neumeier „Dornröschen“ nicht komplett neu choreografiert hat. Schließlich hat er „Dornröschen“ schon 1978 choreografiert und die heutige sog. Neufassung hatte ihre Premiere bereits am 19. Dezember 2021 in Hamburg (Bernd Hoppe am 23.12.2021 in „Der Opernfreund“). Neumeier stellt in Frage, wie man Petipas Stil für ein heutiges Publikum übersetzen kann. Er beruft sich auf seinen persönlichen Geschmack und Instinkt. Nun gut, aber warum choreographiert er dann nicht das ganze „Dornröschen“ neu? Soll man Petipa also doch erhalten, wenn man die Hälfte erhält und nicht fähig ist auch diese zu erneuern? So dumm ist das Publikum nicht, Vergangenes zu verstehen. Es ist trivial: Es gibt keine Zukunft ohne Gegenwart, und diese nicht ohne Vergangenheit.
Es gab langanhaltenden Beifall für alle Künstler. Aber ob die Applaudierenden wussten, dass sie den neuen Ballett-Intendanten hochleben ließen, der wohl kaum noch reines klassisches Ballett einladen wird, sondern seine persönlichen Vorlieben und Neigungen aus „Der Welt des John Neumeier“ auf die Baden-Badener Bühne bringen wird. Es wird uns also viel fehlen – ach!
Inga Dönges, 9. Oktober 2023
Dornröschen
P. I. Tschaikowsky
Festspielhaus Baden-Baden
Besuchte Premiere am 6. Oktober 2023
Choreografie: M. Petipa und J. Neumeier
Musikalische Leitung M. Lehtinen